Es macht sich allseits ein Gefühl des Unbehagens breit. Es herrscht eine Stimmung der Unsicherheit, des Misstrauens und der Ängstlichkeit. Ein Schelm ist, der zum ersten Mal das populäre Wort gesprochen hat: «Wie soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?» Irgendwie hat dieser Schlaumeier jemandem genau zugehört. Es muss sich einer im Gerede verwickelt und Widerspruch ausgelöst haben. Aber da wollte wohl derjenige, der so geredet hatte, nichts mehr hören und bei dem bleiben, was er sich sagen gehört hatte. Ein Gespräch kam nicht zustande.
Ein Journalist fragte mich, was ich an der heutigen Gesellschaft schlimm finden würde. Es gibt die Corona-Pandemie, den Klimawandel und den Krieg in der Ukraine. Er erwartete, dass ich eines dieser Übel nennen würde. Ich aber sagte: «Verheerend ist, dass niemand mehr an die Wahrheit glaubt». Er entgegnete, die Wahrheit gebe es ja nicht. Wenn er dies glaube, dann sollte er vielleicht einen anderen Beruf ergreifen.
Das Gespräch ging weiter:
«Die Tatsache, dass wir hier am Tisch sitzen, ist doch wahr».
«Das will ich nicht leugnen».
«Es gibt also Tatsachen»?
«Ja, offenbar!»
«Wenn jemand von Covid-Viren angesteckt wird, ist es wahrscheinlich, dass es diese Erkrankung gibt»?
«Ja, das ist möglich».
«Wie kann man dann behaupten, dass es sie nicht gibt»?
Und ich fuhr fort:
«Vor einigen Tagen wollte mir jemand weismachen, es handle sich bei Covid nur um eine starke Grippe. Covid sei eine Erfindung der Pharmaindustrie. Es ginge einzig um das grosse Geld.»
Meinen Hinweis, dass ich einige Leute kenne, die an schwerer Covid-Erkrankung und an Long-Covid leiden, wies er von sich. Ich begriff, dass es wenig Sinn machte, mit ihm darüber weiter zu diskutieren.
Ich selber unterscheide zwischen Tatsachenwahrheit und Vernunftwahrheit. Wenn Sokrates sagt: «Ich weiss, dass ich nichts weiss», wäre dies eine Lüge, wenn er dies auf Dinge bezogen hätte, von denen alle wissen konnten, dass es sie gibt. Sein oft zitiertes Wort bezog sich auf die letzten Dinge, von denen er sagte, man könne von ihnen nichts wissen. Die fragende Vernunft kam und kommt zu dieser Erkenntnis.
Gäbe es keine Tatsachenwahrheiten, wäre ein gemeinschaftliches Leben nicht möglich. Die Wissenschaft, die oft angefeindet wird, ist ehrlicher als das gewöhnliche Gerede. Macht ein Wissenschaftler eine Entdeckung, behauptet er nicht, dass sie wahr sei. Albert Einstein nannte seine Relativitätstheorie eine blosse Idee. Sie sei erst wahr, wenn sie sich bewähre. Heute wissen wir, dass ohne Einststeins Erkenntnis über Raum und Zeit nie ein Mensch den Boden des Mondes betreten hätte. Also ist sie wahr. Sie wurde verifiziert. Die medizinische Wissenschaft prüft ähnlich nachfragend das Covid-Virus.
Für den einfachen Verstand wäre es möglich, die sinnlich gegebenen Tatsachen auf Wahrheit zu überprüfen, wenn man dies wollte. Es genügt nicht die eigene Meinung als wahr zu bezeichnen, wenn sie nicht mit Fakten belegt wird. Verschwörungstheoretiker sind meistens nicht bereit, ihre Behauptungen einem Wahrheitstest zu unterziehen. So bleiben sie bei der frei flottierenden Behauptung und beginnen Blasen zu bilden, die mit einem Nadelstich von Ernsthaftigkeit platzen würden. Menschen werden sich auseinanderdividieren, wenn sie den Willen zu ihrem Rechthaben haben wollen, vor das Verlangen nach Wahrheit setzen.
Ich gebe Ihnen vollkommen recht, dass der Begriff der Wahrheit unglaublich fragil geworden ist. Die Tatsache, dass sich die Menschheit heute via Internet austauschen und jeder «seine Wahrheit» verkünden kann, erzeugt bei Vielen Unsicherheit und auch Ratlosigkeit. Mit den sozialen Medien im World Wide Web wurde eine neue Art der Kommunikation geschaffen. Dass es da Missbrauch durch Datenklau und «Meinungsblasen» gibt, ist menschlich erklärbar.
DIE Wahrheit gibt es ja so nicht. Bei diesem Thema kommt mir immer die Geschichte der Blinden in den Sinn, die einen Elefanten anfassen, jeder an einem anderen Körperteil, und dann aussagen, was für eine Gestalt ihrer Meinung nach das Tier haben muss. Natürlich hatte jeder eine andere Vorstellung eines Elefanten. Der Punkt liegt hier auf «blind». Sind wir denn alle blind? Manchmal könnte man es fast glauben, aber es ist komplizierter. Manche wollen einfach nur das glauben, was sie sehen WOLLEN und folgen deshalb ihresgleichen in die isolierten Blasen ins Netz. Wenn es jedoch dabei bleibt und sie nicht auch andere Sichtweisen und Meinungen zulassen und bereit sind, sich damit mit Andersdenkenden auseinander zu setzen, bestehen unsere Gesellschaften bald nur noch aus «Blätterli» und die Sicht auf das grosse Ganze, das sich ja auch immer verändert, und der Zusammenhalt geht verloren.
Diese Meinungsblasen gab es schon immer: Man stelle sich nur eine dörfliche, enge Gemeinschaft vor, die eine Aussenseiterin oder Querulanten piesackt und nicht akzeptieren will, dass es auch andere Daseinsformen und Ansichten geben kann und nicht erkennt, dass das in Ordnung ist und in einer menschlichen Gemeinschaft Platz haben muss. Oder wie bestimmte Medien, die alles öffentlich machen, ob wahr oder falsch, nur um ihren Umsatz zu steigern. Ohne Wahrheit gibt es keine Gemeinschaft, aber welche Wahrheit denn nun? Nur die nackten Fakten allein können es doch auch nicht sein, oder? Das herauszufinden ist, meiner Meinung nach, die Herausforderung der Menschen in den kommenden Jahrzehnten.
Lieber Andreas, schön, wieder mal von dir zu hören. Natürlich bin ich ganz deiner Meinung, die ja nicht nur deine Meinung ist, sondern sehr, sehr nahe an der Wahrheit. Viele Menschen haben Antworten auf Fragen, die sie sich gar nie gestellt haben. So sehe ich das. Liebe Grüsse, Felix.
Lieber Herr Iten, was für ein verwirrender Text sie da geschrieben haben, darin scheint nichts wirklich aufzugehen…
Wenn nur alle Menschen zu ihrer ureigenen Wahrheiten stehen könnten und dürften und diese in respektvollem Dialog ausgetauscht würden, um voneinander zu lernen, sodass KEINE Ausgrenzungen mehr geschehen und ein demokratisches, solidarisches Zusammenleben möglich ist, ja dann wäre ein echtes Miteinander geboren!