Kim de l’Horizon hat mit «Blutbuch» den Deutschen sowie den Schweizer Buchpreis 2022 gewonnen. Als non-binäre Person, die sich weder als Mann noch als Frau identifiziert, schreibt Kim nicht nur Prosa, sondern auch Theaterstücke.
Im Buchklappentext heisst es, «geboren 2666 auf Gethen». Die Welt der Fantasyerzählung liegt Kim de l’Horizon näher als «1992 geboren in Ostermundigen». Und doch, treten wir in Kims Blutbuch ein, befinden wir uns mitten in irdischen Familiengeschichten, besonders in jenen der Grossmutter. Und diese haben mich besonders berührt und fasziniert.
Kim de l’Horizon. Foto: © Anne Morgenstern
Kim spielt mit der Sprache, malt mit ihr, zaubert Atmosphären hervor und hat den Mut, das Unausgesprochene der Familie aufzugreifen und aufzuschreiben, was einem Verrat gleichkommt. Familiengeheimnisse ausplaudern schätzt keine Familie, obwohl es diese überall gibt. Kims Grossmutter ist geistig am Wegdriften, sie vergisst zusehends, wird dement. Kim möchte sie irgendwie erreichen, und so wurden die Gedanken und Erinnerungen an sie während der letzten zwölf Jahre zur Inspiration dieses Romans.
Bei der Grossmutter lernt Kim stricken. Bei ihr findet das Kind im Schrank Mädchenkleider und verkleidet sich damit. Ihre Reaktion, «zieh dich um, das sind Mädchenkleider, du bist doch kein Mädchen», ist zutiefst demütigend. Und doch fragt sich Kim, nun erwachsen, wessen Mädchenkleider Grossmutter für wen aufbewahrt hat. Immer wieder stösst Kim auf Geheimnisse. Auch die zahlreichen leeren Truckli, die überall in der Wohnung herumstehen, und die man nicht berühren darf, sind rätselhaft. Grossmutter hält gerne Monologe, ebenso die Mutter. Dazu Kim: «Ich habe es nie gelernt, das Sagen, ich habe nur das Zuhören gelernt, das Schauen und das Reden, das den Dingen, um die es geht, ausweicht.»
Die «Mutter» nennt Kim «mère», wie üblich im Berndeutschen. Im Buch heisst es dann MEER, GROSSMEER und analog für Vater PEER. Für Kim sind die Frauen die MEEREN, wie ein Ozean, ein Gefühl des Daheimseins, aus dem es ein ganzes Leben braucht, um heraus zuschwimmen. Kim fällt auf, dass Frauen in der Mundart stets als Gegenstände mit sächlichem Artikel bezeichnet werden: das Mami, das Mueti, das Grossmami, das Grosi, aber auch das Anneli, das Vreni. Eine Vergegenständlichung, die Kim schon früh wütend macht, denn so droht den Frauen, wie Kim schreibt, «ein Gegenstand zu bleiben oder ein Ozean zu werden. Das wollte ich nicht.» Und doch, wer ist Kim de l’Horizon selbst? Wie darf man Kim, ohne den Namen zu nennen, als genderfluiden Menschen ansprechen?
Schon als Kind hat Kim das Gefühl, nur da zu sein, um die Bedürfnisse und Erwartungen der anderen zu erfüllen. Auch den eigenen Körper benutzen zu lassen, wenn etwa die Grossmutter das Kind mit ihren rauen Händen streichelt, um sich selbst zu beruhigen. Ein Teil des Romans handelt von Sexgeschichten. Auch mit Ängsten und Gewalt besetzte Szenen, die Kim de l’Horizon aber nicht alle selbst erlebt haben soll, wie aus einem Interview hervorgeht.
Diese Geschichten kommen GROSSMEER natürlich nicht zu Ohren. Und ich selbst, Grossmutter, habe mit diesen Abschnitten im Buch meine Mühe, sie interessieren mich nicht. Die Erzählfigur tut mir in ihrem Getrieben-sein leid und erinnert mich an Freunde, die in den 1980er-Jahren an AIDS erkrankten und starben.
Im Garten von Kims Grossmutter steht eine prominente Blutbuche, beseelt mit Geheimnissen und Metaphern. Sie ist «etwas Monströses, Zwitterhaftes» und das «blutige Laub» wird mit einem Schutzzauber in Verbindung gebracht. Da de l’Horizon nicht nur Germanistik, sondern auch Hexerei bei Starhawk studierte, öffnen sich weitere Erzählstränge zu Hexen und Kräuterfrauen, die in MEERs Stammbaum der weiblichen Linie erscheinen. Durch diese Ahninnen, die bis ins 14. Jahrhundert zurückreichen, belebt sich die Beziehung zwischen Kim und der Mutter.
Das Schlusskapitel enthält Briefe von Kim an die Grossmutter, und zwar in englischer Sprache, die sie nicht versteht. So fügt Kim selber wieder ein Geheimkapitel an die Familiengeschichte an, um die Grossmutter und sich selbst vor möglichen Verletzungen zu schützen. Doch immerhin erscheint im Anhang verkehrtherum – man muss das Buch umdrehen – die deutsche Übersetzung.
Titelbild: Kim de l’Horizon bei der Frankfurter Buchmesse 2022. Bild: Harald Krichel, Wikimedia Commons
Kim de l’Horizon, «Blutbuch», Roman, Dumont Verlag, Köln 2022. ISBN 978-3-8321-8208-3
Im Theater Winkelwiese, Zürich: Kim de l’Horizon, «Hänsel & Greta & The Big Bad Witch», Aufführungen am 23./24./26.02.2023.
Ein modernes Märchen für Erwachsene, in welchem Pflanzen, Tiere und Menschen mithilfe einer guten Hexe im Wald die Rettung der Welt verhandeln und performen.
Liebe Ruth
Ein grosses Dankeschön für deine Besprechung des zweimal ausgezeichneten und heiss diskutierten «Blutbuches» von Kim de l’Horizon. Du hast uns den Inhalt dieses vielschichtigen Buches mit einfachen, doch treffenden Worten sowie klarer und klärender Übersicht vorgestellt. Du kannst damit die zum Teil aufgeheizte Stimmung um das Buch abkühlen und versachlichen. Eine solche Rezension hilft neugierigen, doch verunsicherten Leserinnen und Lesern weiter. So kommt Kim de l’Horizons Anliegen bei einem erweiterten Publikum an – was er in meinen Augen verdient.
Herzliche Grüsse
Hanspeter