Eine Reihe ungeklärter Morde an Prostituierten hält die zweitgrösste Stadt Irans in Atem; der Killer glaubt, mit seinem Tun Gottes Werk zu vollbringen. Der persische Regisseur Ali Abbasi geht mit seinem Thriller «Holy Spider» auf die Suche nach dem Täter und nach Antworten über die Hintergründe und deren Allgemeingültigkeit.
«Spinnenmörder» nennen sie den Serienkiller Saeed Hanaei, der die Strassen der Stadt Maschhad im Auftrag Gottes von Dreck, Drogen und vor allem den Prostituierten befreien will. Die Journalistin Rahimi wird von ihrer Zeitung dorthin geschickt, um dem Fall nachzugehen und erfährt, als Frau in der männer-dominierten Welt, Schwierigkeiten. Doch ihre Suche nach der Wahrheit gibt sie nicht auf. Während die Behörden tatenlos zusehen, wie der Mörder ein Opfer nach dem andern ins Netz lockt, kommt sie dem Täter näher. Entsetzt muss sie jedoch feststellen, dass Hanaei von einem Teil der Bevölkerung als Held gefeiert wird und seine Verurteilung mehr als ungewiss scheint.
Mit der überzeugenden Zar Amir Ebrahimi in der Rolle der Journalistin Arezoo Rahimi und dem grossartigen Mehdi Bajestani als einfachem Bauarbeiter mit heiliger Mission gelingt Ali Abbasi mit «Holy Spider» ein Drahtseilakt über eine wenig bekannte, oft verdrängte Realität des Landes. Seine Premiere feierte der Film 2022 in Cannes, wo die Protagonistin zur besten Schauspielerin gekürt wurde.
Der Mörder horcht herum, was über ihn geredet wird.
Aus den Anmerkungen des Regisseurs Ali Abbasi
«Holy Spider» erzählt die Geschichte von Saeed Hanaei, eines der berüchtigsten Serienmörders der letzten Jahrzehnte im Iran. In einem grösseren Kontext ist der Film eine Kritik der iranischen Gesellschaft, denn der Mörder ist ein sehr religiöser Mann und hochgeschätzter Bürger. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lebte ich immer noch in Iran, als Saeed Hanaei in der Heiligen Stadt Maschhad Prostituierte vom Strassenstrich ermordete. Es gelang ihm, 16 Frauen zu töten, bevor er gefasst und vor Gericht gestellt wurde. Während des Gerichtsverfahrens wurde mein Interesse an dem Fall erst richtig geweckt. In einer normalen Welt würde kein Zweifel daran bestehen, dass ein Mann, der 16 Morde begangen hat, als schuldig angesehen würde. Aber hier war es anders: Ein Teil der Öffentlichkeit und die konservativen Medien begannen, Hanaei als Helden zu feiern. Sie unterstützten die Idee, dass er einfach nur seine religiöse Pflicht erfüllte, die Strassen zu säubern, indem er diese «schmutzigen» Frauen beseitigte. Dieser Aspekt löste in mir das Bedürfnis aus, diesen Film zu machen.
Meine Absicht war es nicht, einen Serienmörderfilm zu drehen. Ich wollte vielmehr einen Film über eine Serienmörder-Gesellschaft machen. Es geht um einen in der iranischen Gesellschaft tief verwurzelten Hass auf Frauen, der nicht unbedingt religiös oder politisch motiviert ist, sondern einen kulturellen Ursprung hat. Überall auf der Welt entsteht Misogynie aus den Gewohnheiten der Menschen. In Iran gibt es eine Tradition des Hasses auf Frauen, und er nimmt oft hässliche Formen an.
Saeed ist gleichzeitig Opfer und Täter. Als Soldat an der Front des iranisch-irakischen Krieges hatte er seinem Land seine Jugend gegeben, um dieses besser zu machen und für sein eigenes Leben Bedeutung zu erhalten. Nun muss er feststellen, dass er der Gesellschaft egal ist und seine Opfer während des Krieges nichts geändert haben. Er lebt in einem existenziellen Vakuum, trotz seines Glaubens an Gott. Er besucht die Moschee und betet und weint dort. Er findet einen neuen Auftrag, eine Mission für Allah.
Die Geschichte der Journalistin Arezoo Rahimi ist für unseren Film ebenso wichtig wie jene von Saeed Hanaei. Ich will auch ihr nahekommen und verstehen, wie sie selbst, aber auch ihre Familie zu diesen Konflikten steht und wie sie sich in der Gesellschaft sieht, während sie den Fall recherchiert.
Hanaeis Opfer waren keine gesichtslosen Strassenfrauen. Jede von ihnen hatte eine eigene Persönlichkeit, ein eigenes Leben. Und wir hoffen, dass es uns gelungen ist, ihnen wenigstens einen Teil ihrer Würde und ihrer Menschlichkeit, die ihnen genommen wurden, zurückzugeben. Sie sind keine Heiligen. Sie sind keine unglückseligen Opfer. Sie sind Menschen, wie Du und ich.
Die Journalistin auf der Spur des Mörders
Auf der Suche nach dem Mörder, …
In ihrer bescheidenen Wohnung kleidet sich eine junge Frau an, auf ihrer Schulter sieht man Schwielen und blaue Flecken, klare Anzeichen von Misshandlung. Liebevoll verabschiedet sie sich von ihrer schlafenden Tochter. Auf den Strassen bietet die Frau ihren Körper an, während in unmittelbarer Nähe das Gebet des Muezzins zu hören ist. Ein Mann nimmt sie mit zu sich nach Hause, hat brutalen Sex mit ihr, während im Fernsehen die Nachrichtenbilder der Twin Towers von 9/11 zu sehen sind.
Saeed Hanaei selbst verstehe sich als Soldat im Heiligen Krieg gegen das Laster, im Feldzug gegen Prostituierte und drogenabhängige Frauen, welche die Strassen der Heiligen Stadt verschmutzen. Auf dem Mitschnitt eines andern Journalisten hört Rahimi, wie der Mörder verspricht, weiterzumachen, bis seine Arbeit getan ist. Er ist ein einfacher, scheinbar unbescholtener, hart arbeitender Bauunternehmer, geschätzt bei den Kollegen und ein treuer Familienvater mit drei Kindern. Aber tief in ihm, der auf den ersten Blick sanft und zufrieden wirkt, brodelt es, kocht ein heiliger Zorn, ein ausgeprägter Frauenhass. Aufmerksam verfolgt er, was in der Zeitung über den Mörder berichtet wird.
Nach kurzem Prozess sitzt der Spinnenmörder hinter Gitter. Doch die Öffentlichkeit ist nicht bereit, ihn zu verdammen, immer lauter werden die Stimmen, die sich auf seine Seite stellen: Er habe nichts Falsches getan, habe nur im Sinne Gottes gehandelt. Und Saeed wird sich immer sicherer, dass man ihm nichts anhaben kann, dass er gerettet wird, selbst nachdem er vom Gericht zu Tode verurteilt worden ist.
Der Serienkiller verteidigt sich vor Gericht
… den Hintergründen und der Allgemeingültigkeit der Geschichte
Von Szene zu Szene, von Satz zu Satz und Bild zu Bild drängen sich uns in «Holy Spider» spontane Antworten auf, im Film fein angedeutet, auf die Fragen der Geschichte: Weshalb ist solche Brutalität an Frauen möglich? Was für ein Mensch ist der Täter, wie eine Gesellschaft, die solches Tun duldet, fördert und verteidigt. Der Film liefert kleine Steine eines grossen Mosaiks, das nie fertig wird, als Fragment offen bleibt. Gruppengespräche von Filmbesucher- und -besucherinnen würden wohl die besten Antworten erbringen, weil sich dabei vielleicht so etwas wie eine «Schnittmenge» der gefundenen Antworten ergäbe. Hier beschränke ich mich auf wenige, fast zufällige Anmerkungen: Handelt Saeed in einem Wahn? Ist er geisteskrank? Weshalb sind Sex und Gewalt hier dermassen miteinander verbunden? Wurde die hier verübte Brutalität im früher erlebten Krieg angelernt? Ist der Täter Opfer einer indoktrinierten Ideologie? Fühlt er sich als Dschihad-Kämpfer gegen die Sittenlosigkeit? Weshalb wird sein Morden in der Bevölkerung zum Teil positiv aufgenommen? Werden andere, vielleicht einmal auch sein Sohn Ali, in seinem Sinne weitermachen?
Fragen wir weiter, indem wir das Thema ausweiten, so kommen wir wohl bald zu den Religionen, den bei uns bekannten Buchreligionen Judentum, Christentum und dem Islam: Warum soll Eva im Paradies Adam verführt haben und bleibt dafür Jahrhunderte lang die Schuldige? Weshalb sind bei der Beurteilung der Prostitution stets die Frauen die Bösen, nie die Männer? Weshalb gibt es in den sogenannten Heiligen Büchern so unendlich viele Gesetze und Reglemente für die Sexualität? Z. B. gleich zwei Gebote von den zehn für die Sexualität, nur eines aber für das Töten. Aktuell sind es vor allem evangelikalen Kirchen, die in den USA und Südamerika die Politik mitbestimmen, die mit ihren Regeln für die Sexualität auffallen – eindringlich zu erleben im aktuellen Film «Medusa» von Anita Rocha De Silveira.
Titelbild: Den Serienkiller Saeed Hanaei in der Moschee der Heiligen Stadt Maschhad
Gespräch mit Ali Abbasi und PS: Maschhad im Brennpunkt
Regie: Ali Abbasi, Produktion: 2022, Länge: 119 min, Verleih: Xenixfilm