Matthias kehrt ins heimatliche Transsilvanien zurück, wo er weder von der Ex-Frau Ana, seinem Sohn Rudi noch seiner Ex-Geliebte Csilla erwartet wird. Diese sucht Mitarbeiter für ihre Bäckerei, doch als sie drei Sri-Lanker einstellt, um EU-Geld zu erhalten, ist im Dorf der Teufel los. Der Rumäne Cristian Mungiu hat mit «R.M.N.» eine bissige Analyse des Fremdenhasses seines und wohl auch anderer Länder geschaffen. Ab 19. Januar im Kino.

Cristian Mungiu bleibt auch in seinem sechsten Langfilm dem kraftvollen Naturalismus treu, der ihn dank des Cannes-Gewinners «4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage» zum prominentesten Vertreter der rumänischen Kinowelle gemacht hat. Mit dem Unterschied, dass er in «R.M.N.» durch vermehrtem Einsatz der Steadicam bei den langen Einstellungen weniger an den Gesichtern klebt, sondern die Handlung vermehrt in der Totalen zeigt – was Distanz erzeugt und den Blick für Zusammenhänge öffnet.

Lange lässt «R.M.N.» offen, worum es dem Film überhaupt geht. Zunächst sehen wir ein Kind durch einen verschneiten Wald irren und eine verstörende Entdeckung machen. Kurz darauf springt er in die deutsche Provinz, wo der Rumäne Matthias (Marin Grigore) gerade seinen Job in einem Schlachthaus verliert, nachdem er sich wegen einer rassistischen Beleidigung zu aggressiv gewehrt hat. Es ist kurz vor Weihnachten, und er trampt kurzerhand in sein transsilvanisches Heimatdorf zurück. Dann erfahren wir, dass es sich beim Kind, das schockbedingt seine Sprache verloren hat, um seinen Sohn Rudi handelt, und treffen auf weitere Personen aus dem heimischen Umfeld des Mannes: seinen kranken Vater Otto, Rudis Mutter Ana (Macrina Barladeanu) sowie seine damalige Geliebte Csilla (Judith State) – mehrheitlich in kalten blauen Farben und ständigem Sprachenwirrwarr.

Die Ex-Geliebte Csilla und Matthias

Transsilvanien

Wie selten in einem Film, ist es bei «R.M.N.» hilfreich, die ethnischen, politischen, kulturellen und religiösen Hintergründe zu verstehen. Deshalb hier ein Exkurs: Transsilvanien ist ein Gebiet mit dem europaweit vielleicht grössten Sprachenwirrwarr. Es ist eine Region, um die es Konflikte zwischen zwei Ländern gab, sie gehörte einmal zum einen, dann zum andern Land: Rumänien und (Österreich-)Ungarn. Sie sind aber nicht die einzigen Einwohner. Daneben gibt es seit circa 700 Jahren Sachsen, die in dieser Region Land erhalten haben. Es leben hier also auch Deutsche, die meisten haben die Region in den 1970er-Jahren, als sie von Ceausescu für 5000 Deutsche Mark pro Kopf an die Bundesrepublik Deutschland verkauft wurden, verlassen. Die anderen gingen nach dem Fall des Kommunismus, doch ihre Häuser, Kirchen, Friedhöfe und Dörfer sind geblieben. Daneben gibt es Roma, die ersten waren vor circa 200 Jahren als Sklaven oder Domestiken gekommen. Viele liessen sich nach dem Wegzug der Deutschen in deren verlassenen Häusern nieder. In den 1990er-Jahren kam es zu gewalttätigen Spannungen mit Todesopfern.

Der Film handelt weiter von Russen und Ukrainern, von Weissen und Schwarzen, von Sunniten und Schiiten, von Reichen und Armen, sogar von Grossen und Kleinen. – Sobald ein fremder Mensch auftaucht, wird er als Angehöriger eines anderen Clans und als potenzieller Feind wahrgenommen. Im Film sprechen die Ungarn Ungarisch, die Rumänen Rumänisch, die Deutschen Deutsch. Trotzdem verstehen sich alle. Alle sprechen Englisch, da hier auch Globalisierung herrscht. Gebildete Menschen sprechen sogar Französisch. Die Menschen, die aus der Ferne kommen, sprechen ihre eigene Sprache, die niemand versteht. Mit so vielen verschiedenen Ethnien ist Transsilvanien zu einem beliebten Spielplatz populistischer oder nationalistischer Bewegungen geworden.

Karge Landschaften vor armen Dörfern

Von den Vorgeschichten …

Kaum ist Matthias angekommen, muss er feststellen, dass zwar die archaisch anmutende Berglandschaft dieselbe geblieben ist, die zwischenmenschlichen Beziehungen sich hingegen verändert haben: Seine Versuche, dem verstummten Rudi nach Jahren der Abwesenheit ein von Härte, Dominanz und physischer Kraft geprägtes Männerbild anzuerziehen, scheitern. Csilla ist mittlerweile zur Chefin der örtlichen Grossbäckerei aufgestiegen, verzichtet auf Fleisch und bereitet sich als Kontrabassistin auf ein Orchesterkonzert vor, eine Tatsache, die  der mit Musik ansonsten eher spartanisch umgehende Mungiu mehrmals nutzt, unterschwellige Beobachtungen in das ambivalente Beziehungsgeflecht einzuweben. Matthias bleibt zu einem gewissen Grad immer eine Leerstelle, dient lediglich als Auslöser vielfältigster Prozesse.

Matthias versucht, an Toni heranzukommen

… zur Haupthandlung

Sein Kernthema enthüllt «R.M.N.» erst, als Csilla drei Gastarbeiter aus Sri-Lanka einstellt. Unterschwellige, mit Ritualen und Religiosität begründete Ausbrüche von Rassismus und Fremdenhass dringen an die Oberfläche, als hätten sie nur auf eine Gelegenheit gewartet. Nicht nur die Kirche in Gestalt des Dorfpfarrers, auch der anfangs selbst als «fauler Zigeuner» geschmähte Matthias stimmt bald in den Chor aus Vorurteilen und Ressentiments ein – der irgendwann in Gewalt ausbricht. Die Perspektive des Films verschiebt sich leicht zu Csilla hin, die zusammen mit Ana in Opposition zur Anwohnerschaft steht. Bei den Arbeitsbedingungen in der Bäckerei handelt es sich zwar offensichtlich um neokapitalistische Ausbeutung, weshalb sich von der Bevölkerung auch wochenlang niemand auf die Ausschreibung gemeldet hatte.

Das Tribunal, rechts vorne Scilla und Ana

Die Viertelstunde der Wahrheit

Zum Höhepunkt kommt es in der längsten Szene des Films, in der die Dorfbevölkerung sich zuerst in der Kirche, dann im Kulturzentrum zusammenfindet, um über den Umgang mit den fremden Arbeitern zu beraten: eine 17-minütige, in einer einzigen statischen Einstellung eingefangenen Dialog-Choreografie mit 26 sprechenden Personen, die ausschaut, als habe Mungiu alle Social-Media- und Boulevard-Argumente in die lokale Realität übertragen. Interessant wird das menschenfeindliche Pingpong des Fremdenhasses, indem der Regisseur auch die sozialen Implikationen in den Blick nimmt; fast versehentlich stossen die Sprechenden zwischen Hetzparolen auch mal auf valide Kritik an ihrem Leben und ihren Lebensumständen, bevor sie einander durch die nächsten xenophoben Stereotypen wieder davon abbringen, konstruktiv zu werden. Ohne ihren Rassismus zu entschuldigen, benennt Mungiu ihn auch als fehlgeleitete Reaktion auf Armut und Isolation – als Ersatzhandlung, die sich nicht an den Verhältnissen entlädt, sondern auf die noch Schwächeren einschlägt.

Es sind die immer gleichen Bemerkungen, die wir aus dem Internet und dem Boulevard kennen, also Arbeitsplätze, Hygiene, Verbrechen etc. Vielleicht ertappt man sich kurzzeitig auch mal, wenn man die Brillanz der Regie dieser langen Einstellung bewundert, statt weiter auf die «Argumente» des Fremdenhasses zu achten. Eine derart grossartige inszenierte und durchchoreografierte Massenszene ist bewundernswert.

Erfolgloser Versuch, seine Familie zu versöhnen

Zum Titel und zum Schluss

Der Regisseur sagt in einem Interview, das am Schluss der Besprechung angehängt ist, dass sich Empathie und andere soziale Kompetenzen auf der Oberfläche der Hirnrinde ausbilden, währenddessen die primitiven Instinkte, dank derer der Mensch überleben konnte, die 99 übrigen Prozente des Gehirns ausmachen. R.M.N. bedeutet Rezonanta Magnetica Nucleara. Vereinfacht gesagt, handelt es sich um eine Methode zur Erforschung des Gehirns, einen Hirnscanner also, der versucht, Dinge unter der Oberfläche sichtbar zu machen.

Jenseits solcher naturwissenschaftlicher Argumente ist auch der neue Film von Cristian Mungiu, in der Umkehrung der gezeigten Unmenschlichkeit, wiederum ein packendes und aufklärendes, allgemeinmenschliches, allgemeingültiges Filmdokument grosser Menschlichkeit.

Titelbild: Matthias, zurück aus Deutschland

Anmerkungen von Cristian Mungiu zum Film «R.M.N.»

Regie: Cristian Mungiu, Produktion: 2022, Länge: 125 min, Verleih: Cineworx