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Schwul oder lesbisch altern

Öffentlich äussern sich heute kaum mehr Leute homo- oder lesbenfeindlich. Queer ist hype. Doch hinter der Fassade verbirgt sich oft versteckte Abneigung. Der Verein queerAltern will die Pflege und die Wohnsituation der Betroffenen verbessern.

Christian Wapp ist Vizepräsident von queerAltern. Er hat die Interviewfragen schriftlich beantwortet.

Seniorweb: Christian Wapp, wie soll ich die von Ihrem Verein erfassten Menschen bezeichnen? LGBTIQ+ ist mir zu umständlich und unverständlich.

Christian Wapp: Sie können den Oberbegriff «queer» verwenden. Vor allem jüngere homo- oder bisexuelle Menschen definieren sich heute lieber als «queer» denn als lesbisch (L), schwul (G für gay) oder bisexuell (B). Ältere Lesben und Schwule zum Beispiel haben dafür gekämpft, lesbisch oder schwul sein zu dürfen und dafür akzeptiert zu werden. Deshalb halten sie eher an diesen Bezeichnungen fest.

Welche besonderen Bedürfnisse haben queere Menschen im Alter?

Sie wollen sich nicht mehr konstant erklären müssen für ihre Lebensweise. Sonst haben sie eine Vielfalt von Bedürfnissen wie alle anderen Menschen. Wichtig ist vor allem, dass sie akzeptiert werden. Um sich vor Ablehnung zu schützen, ziehen sie sich in Alterseinrichtungen oft wieder zurück in den «Closet» (bedeutet ungeoutet leben, Seniorweb). Dabei haben sie vielleicht ein Leben lang offen für Anerkennung gekämpft. Besonders schwierig haben es trans Menschen im Alter. Sie nehmen meist geschlechtsangleichende Hormone oder haben ihr Geschlecht operativ anpassen lassen. Sie brauchen deshalb eine spezielle Pflege und eine spezielle medizinische Betreuung.

Weil es manche Pflegende verwirrt, eine trans Frau ohne Schminke und Perücke zu sehen?

Ja, oder weil das Personal bei der Intimpflege irritiert ist, eine nicht operierte trans Frau mit Penis oder einen trans Mann mit Vagina vor sich zu haben. Vielfach fehlt es an Wissen über queere Menschen. Angesagt wäre aufklärende Weiterbildung, doch beim heutigen Personalmangel ein schwieriges Unterfangen. queerAltern hat angefangen, an Pflegehochschulen Weiterbildungen zu geben und stellt ein Ausbildungsmodul zur Verfügung, das diese Defizite verringern soll.

Schwule Männer mit wechselnden Sexpartnern sind infektionsgefährdeter.

Genauso wie unter heterosexuellen Menschen gibt es auch unter queeren Menschen solche, die – meist in Phasen ihres Lebens – ihre Sexualpartner oder -parterinnen oft wechseln. Leider werden Betroffene im Gesundheitswesen noch oft scheel angeschaut, wenn sie eine Geschlechtskrankheit haben.

Scheele Blicke sind das eine. Wahrscheinlich gibt es noch schlimmeres.

Ich schätze, dass heutzutage unverheiratete Partner oder Partnerinnen von queeren Menschen diese auf Intensivstationen besuchen dürfen. Doch gibt es leider immer noch Spitäler, die dies nicht erlauben. Oder Eltern oder Geschwister, die dies verhindern. Immerhin verbessert eine Heirat oder eingetragene Partnerschaft die Situation. Doch es wollen nun mal nicht alle queeren Menschen heiraten.

Schwule Männer, lesbische Frauen sind doch längst in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen.

Eigentlich ist heute gesellschaftlich nicht mehr akzeptabel, sich offen queerfeindlich zu äussern. Dennoch haben fast 36 Prozent der Stimmberechtigten sich gegen die Ehe für alle ausgesprochen. Vielerorts belasten verstecktes Unverständnis oder Homophobie das Zusammenleben.

Bevorzugen schwule Männer und lesbische Frauen Betreuungspersonal mit den gleichen sexuellen Präferenzen?

Viele fühlen sich bei Pflegenden mit dem gleichen Hintergrund besser aufgehoben. Oder das Personal sollte wenigstens keine Probleme damit haben. Queere Menschen haben nun mal andere Biografien als Menschen der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft; sie haben andere Erlebnisse zu teilen und tun dies gerne mit Gleichgesinnten. Während queere Menschen in der Regel in einem heteronormativen Umfeld aufwachsen und zudem kulturell mit Heterogeschichten überschüttet werden, haben viele nichtqueere Menschen keine Ahnung von den Lebensrealitäten queerer Menschen. Viele queeren Menschen befürchten, wenn sie pflegebedürftig werden, in die falschen Hände zu geraten.

Das spricht für spezielle Institutionen für queere Pflegebedütftige.

Ja, der Verein queerAltern freut sich, dass ab 2026 in der Stadtzürcher Überbauung Espenhof drei Pflegewohngruppen für insgesamt 23 Personen zur Verfügung stehen.

Geplant sind im Espenhof auch 26 Alterswohnungen. Entsteht ein Ghetto?

Was für ein belasteter Begriff! Juden mussten ihre Leben in Ghettos abgesondert und ohne Kontakt zur nicht jüdischen Bevölkerung leben. Doch wir sind Teil eines Ganzen. Der Espenhof ist eine Siedlung der Stiftung für Alterswohnungen der Stadt Zürich, und das Haus für queere Menschen soll ein diskriminierungsfreierer Ort werden, ein Safe Space. Wir werden Veranstaltungen für alle Siedlungs- und Quartierbewohnenden organisieren. Wir sind es zudem gewohnt, Tag für Tag zwischen unserer und der Heterowelt hin und her zu wandern.


Im Espenhof in Zürich-Albisrieden ist auch ein Haus geplant, in dem ausschliesslich alte queere Menschen wohnen und gepflegt werden. Visualisierungen des Projekts.



Kommentar des Autors

Unsichtbare Mauern ums Altersheim

Christian Wapp vom Verein queerAltern verlangt in unserem Interview das Richtige: angepasste Pflege und Betreuung, Akzeptanz in allen Lebensbereichen. Dass die Selbsthilfe-Organisation auch bei den Behörden Dampf macht, ist gut.

Skeptischer schaut man auf die 26 Alterswohnungen in einem separaten Haus in der Zürcher Überbauung Espenhof. Da will sich die queere Gemeinschaft möglichst unauffällig und vollständig in den Hetero-Alltag einbringen. Und schafft mit dieser den Queer-Menschen vorbehaltenen Institution das Gegenteil, nämlich Segregation statt Integration.

Offenbar diskutiert auch der Verein die Pläne. Auf der Webseite von queerAltern wird die Frage gestellt, ob hier ein Ghetto entsteht. Die Antwort des Vereins entspricht der Stellungnahme von Christian Wapp im Interview: Die Bewohnenden und die Institution würden den Kontakt nach aussen suchen. Geplant seien offene Veranstaltungen für alle.

Nun gibt es wohl kaum eine Alterssiedlung, die nicht genau das gleiche verspricht: offene Türen, Begegnungen mit der Aussenwelt. Die Realität: Institutionen mit Kindertagesstätten schaffen dies manchmal. Hin und wieder gelingt es auch mit Veranstaltungen oder Ausstellungen Publikum ins Haus zu holen. Doch meistens bleibt das offene Altersheim eine unerfüllte Hoffnung. In den Gängen, in den Cafeterias und Restaurants, in den Begegnungsräumen trifft man nur Pflegende, Bewohner und Besucherinnen.

Hoffentlich wird die queere Siedlung in Zürich nicht von ebenso unsichtbaren Mauern umgeben sein.    pst



LGBTIQ+.
Christian Wapps Erklärung der Abkürzung. L steht für lesbisch, G für gay (schwul), B für bisexuell. T bedeutet trans und bezieht sich nicht auf sexuelle Präferenzen, sondern auf die geschlechtliche Identität. Diese Nonbinarität ist eine fluide Form, die sich nicht anhand des angeborenen Geschlechts orientiert, es könnte als eine Form von Transidentität bezeichnet werden. I steht für intergeschlechtliche Menschen. Auch sie haben eine fluide Form, die bei Geburt keinem Geschlecht zugeordnet werden können. Oft werden sie jedoch noch als Babys in ein Geschlecht gezwungen – mit Einsatz von Operationen und/oder Hormonen. Mit tragischen Folgen. Genitalverstümmelungen von intergeschlechtlichen Kleinkindern sind in der Schweiz noch immer erlaubt. Q bedeutet queer, + steht für alle anderen Varietäten. wapp/pst

Der Verein QueerAltern fördert gemäss Eigenaussage soziales Leben von alternden queeren Menschen, engagiert sich für queeres Wohnen, queergerechte Pflege und Hilfestellungen, unterstützt queere Politik, organisiert Veranstaltungen und engagiert sich für den Austausch zwischen den Generationen.

In diesem Video erläutern Paul, Doris und Effi Mer ihre Erwartungen

Link zum Verein queerAltern

Bilder in der Reihenfolge des Artikels: Sandra Meier (2); Architekten Bollhalder Eberle und Theres Hollenstein; dw; Video: QueerAltern, pst.

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5 Kommentare

  1. Es wäre ja schön, wenn die separate queere Abteilung gar nicht gebraucht würde, weil keine Diskriminierung mehr vorkommt.
    aber: nicht alle Menschen schaffen das!

    In diesem Bereich «queer altern» ist es sicher leichter, Diskriminierung von vornherein einen Riegel vorzuschieben. Pflegende mit Vorbehalten gegen queere Menschen suchen sich hoffentlich rechtzeitig andere Arbeitsplätze, Leitung, Pflegende und Gepflegte sind für das Thema ganz besonders sensibilisiert.
    Dies sollte den Menschen gegönnt werden.

    Vielleicht hat das Projekt ja Leuchtturmfunktion…
    …so daß es möglichst bald nicht mehr gebraucht wird – da bin ich jedoch nicht ganz so sicher!

  2. Dass wir Menschen nicht mehr nur weiblich und männlich sind, sondern auf andere Art geschlechtlich geformt sind, ist wohl von der Natur, die auch Fehler macht, gewollt und deshalb vorn vorne herein in der Evolution vorgesehen. Bei den Tieren gab es das ja schon immer. Wir sind aus tierischen Vorfahren entstanden, also sind wir ein legitimes Erbe. Die sog. Queer-Menschen haben die gleiche Berechtigung ihr menschliches Leben zu leben, wie wir andern auch. Aber es ist ein Prozess, die anderen zu überzeugen. Das wird schon.

  3. Meine Meinung zum Kommentar zum Artikel : Offensichtlich mit vorgefasster Meinung ans Interview herangegangen und trotz der erklärenden Antworten bei der ursprünglichen Meinung geblieben.

  4. Ghetto von 26? Für schätzungsweise 8000 queere Menschen über 65 in der Stadt Zürich?
    Nein, der Espenhof wird ein Ort sein für vielfältig queere Menschen sein, die sich unter sich wohlfühlen und von aufgeschlossenen sensibilisierten Mitarbeitenden nach Bedarf begleitet, betreut und gepflegt werden.
    Und ja, andere queere Menschen werden es vorziehen, erstens so lange wie möglich im gewohnten Umfeld zu leben, aber dann anderswo aus den genau gleichen Gründen doch eine queer-sensibilisierte Betreuung und Pflege wünschen. In diesem Bereich besteht auch Handlungsbedarf.

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