Wie erleben Schriftsteller ihr Sterben? Corina Caduff kommentiert in «Ein letztes Buch» Auszüge aus Büchern von neun Autorinnen und Autoren, die über den nahenden Tod schreiben? Was kann die Leserschaft daraus lernen?
In der dritten und vierten Primarschulklasse durfte ich als Ministrant an Beerdigungen den Trauernden jeweils mit einem Holzkreuz voranschreiten – vom Leichenhaus oder der Friedhofkapelle zum Grab. Wenn der zelebrierende katholische Priester mir im Rahmen der damals üblichen Beerdigungsrituale das Kreuz aus der Hand nahm, es nach den Worten «Du bist aus Staub und wirst wieder zu Staub» in den Erdhaufen neben dem Grab steckte, durfte ich abhuschen und – verspätet – zur Schule gehen. Damals dachte ich, der Tod sei für alle gleich. Dass wir sterben, ist auch heute noch für alle gleich. Wie wir sterben und welche Beerdigungsrituale wir wollen, ist von Person zu Person verschieden.
In den von Corina Caduff präsentierten neun Beispielen autobiografischer Sterbeliteratur wird das Sterben zu einem mehr oder weniger langen Prozess, den die Autorinnen gestalten, erleiden, erdulden. Fragen über Fragen: Wo haben Sterbende noch Handlungs- und Entscheidungsspielräume? Immer wieder mal mit dem Schicksal hadern? Wem vertrauen? Der Medizin, und wenn ja welcher? Den Verwandten? Wem genau? Wer soll beim Sterben wann in der Nähe, wann weit weg sein? Schmerzen ertragen oder mit Medikamenten dämpfen? Was zulassen, was ablehnen? Exit? Rückblicke auf das Leben, kritisch, demütig, verzeihend? Was wem auf welche Weise hinterlassen? Was nach dem Tod?
Der Autor und Regisseur Christoph Schlingensief (1960 – 2010) hält in einem Tagebuch Phasen seiner Krebserkrankung fest und schreibt einleitend: «Dieses Buch ist das Dokument einer Erkrankung, keine Kampfschrift. Zumindest keine Kampfschrift gegen eine Krankheit namens Krebs. Aber vielleicht einer für die Autonomie des Kranken gegen die Sprachlosigkeit des Sterbens.»
Christopher Hitchens (1949 – 2011), streitbarer amerikanischer Publizist, der bis zum Schluss seines Lebens gegen alles Religiöse polemisierte, überlegt sich, wie er auf die Frage «Wie geht es denn so?» antworten könnte. Oder ist es besser dem «Frag nix, sag nix»-Prinzip zu folgen?
Cory Taylor (1955 -2016), Australierin, wurde nach ihrem 50. Lebensjahr mit der Diagnose Hautkrebs konfrontiert, konnte aber noch gut 10 Jahre weiterleben und befasste sich intensiv mit dem Wunsch, gut zu sterben. Wie kann sie sich von ihrem Ehemann, mit dem sie über 30 Jahre verheiratet war und den beiden erwachsenen Kindern, auf schöne Weise verabschieden – mit oder ohne Sterbehilfe?
Jenni Diski (1947 – 2016), britische Schriftstellerin, die mit der Diagnose Lungenkrebs und Lungenfibrose starb, beschreibt ihre Unsicherheit vor den Bestrahlungsapparaten und findet in einer Rückschau auf ihr Leben das Grundgefühl der Unsicherheit als Konstante in ihrer Biografie. Kein Wunder, landete sie doch bereits im Alter von 14 Jahren nach Gewalt- und Verwahrlosungserfahrungen in ihrer Kindheit in einer psychiatrischen Klinik.
Das posthum erschienene «Bauchspeicheldrüsentagebuch» des ungarischen Schriftstellers Péter Esterhazy (1950-2016) zeigt den Versuch, der Diagnose «Bauchspeicheldrüsenkrebs mit Metastasen in der Lunge» mit Heiterkeit, positivem Denken und Kreativität zu begegnen: «Ohne vorsätzlich positive thinking betreiben zu wollen, ist mir in diesem Augenblick völlig klar, dass ich genesen werde.»
Michael Paul Gallagher (1939 – 2015), Jesuit und Dozent für englische Literatur am Universitiy College Dublin, war dank seine Publikationstätigkeit ein bekannter irischer Katholik. Kann man mit einem Harnblasenkarzinom und «Flecken» im Hirn (Hirntumor?) besser in den Tod gehen, wenn man vom Glauben getragen wird? Naja, oft ein «Jo-Jo». So schreibt er am 11. 10. 2015: «Ein fast durchgehend schwacher Tag, Müdigkeit, Übelkeit, kränklich, verloren in vagen Schmerzen… Ich bin geneigt, die Chemo abzubrechen und die Bestrahlung nicht zu beginnen. Ich bitte den Herrn, mir Licht und Mut zu geben.»
«Bevor ich jetzt gehe» (2016) des US-amerikanischen Arztes und an Lungenkrebs erkrankten Patienten Paul Kalanithi (1977 – 2015) wurde als Sachbuch stark rezipiert, insbesondere von Gesundheitsfachleuten. Denn hier wird das Sterben und das medizinische Drum und Dran vom gleichen Autor aus der professionellen Sicht eines Arztes und aus der Perspektive des Lungenkrebs-Patienten erzählt. «Warum war ich in einem Patientenkittel so kleinlaut, im Chirurgenmantel so gebieterisch?»
Als Julie Yip-Williams (1976 – 2018) 42-jährig an Darmkrebs starb, waren ihre beiden Töchter sechs und acht Jahre alt. Die in Vietnam blind geborene Tochter chinesischer Eltern wurde nach der Flucht der Familie in die USA an den Augen erfolgreich operiert, blieb aber ihr Leben lang stark sehbehindert. Sie studierte Rechtswissenschaften und lernte in einer renommierten Anwaltskanzlei ihren Mann kennen. Was heisst sterben, wenn man einen lieben Partner und zwei kleine Kinder zurücklässt?
Die Schweizer Schriftstellerin Ruth Schweikert (geb. 1964) überstand eine Brustkrebserkrankung und publizierte 2019 das Buch «Tage wie Hunde». Kann man schwer krank sein und mit dem jüngsten der fünf Söhne eine Reise nach London machen, als Dozentin arbeiten, über Sterben und Krankheit öffentlich und privat diskutieren? Ja, man kann. Irgendwie geht es schon. Und was sagen andere aus dem Umfeld? «Ich habe gelesen, man hat mir erzählt, ich habe gehört, dass Sie…, nach diesem Scheisskrebs, wie sind Ihre Werte, was weiss man, wie sieht es aus, was sagt die Statistik, was besagt das Blutbild, das PET-CT, die Tumormarker?; du gehst doch regelmässig zur Kontrolle???, was sagen die Ärzte, wie sieht es aus, ich hoffe doch sehr, man hat es unter Kontrolle!?, alles im Griff so weit?, wie geht es dir denn, fast getraue ich mich nicht zu fragen; muss ich mir Sorgen machen?» (S. 244)
Corina Caduff empfiehlt in der Einleitung das Buch für das Gesundheitspersonal, für Personen, die an Palliative Care interessiert sind oder Sterbende begleiten, ebenso für An- und Zugehörige von Sterbenden oder für Menschen mit schweren Erkrankungen. Und weiter? «Tatsächlich ist die Lektüre von Sterbeliteratur auch eine Frage der Empathie mit dem eigenen zukünftigen Ich, denn wir alle werden eines Tages Sterbende sein.» (S. 27) Dem kann ich nur zustimmen. Die Lektüre ist auch für noch Fitte aufwühlend und kann zu einer tiefen Dankbarkeit gegenüber dem Leben führen und zu kreativeren Umgangsweisen mit sich und der Welt.
Corina Caduff (HG.): Ein letztes Buch. Autorinnen und Autoren schreiben über ihr Sterben. Zürich 2023. ISBN: 978-3-907351-10-9
Corina Caduff im Gespräch über «Ein letztes Buch»:
Zum Titelbild: Friedhof (Foto aus Pixabay)
So ein Buch möchte ich nicht lesen. Ich weiss, dass ich eines Tages sterbe. Wie, wann und wo kann ich nicht beeinflussen.