Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Mich faszinieren solche Sprichwörter. Sie sind eigentlich alte volkstümliche Lehrsätze.
Nehmen wir also die Geschichte von Hänschen und Hans. Oh, je, wie hat sich doch die Welt verändert. Beruflich muss heute Hans permanent weiterlernen. Stillstehen ist nicht erlaubt. Die technische Revolution, die Digitalisierung entwickelt sich so rasant. Sie verändert unser aller Leben. Und letztlich können wir nur sagen: Alles ist so viel schneller geworden. Wo immer wir sind, wollen wir alles und sofort haben. Wo führt das nur hin?
Wenn ich zurückschaue auf mein Leben, dann denke ich, wie dankbar ich meinen Eltern und Grosseltern bin, für all das, was ich von ihnen lernen durfte. Danke sagen, ein Bitte-schön formulieren. Höflichkeitsformen also, die die Voraussetzung für ein gutes gesellschaftliches Zusammenleben bedeuten. Basics eben! Wie Jeanne Hersch so eindrücklich sagt: Die Erziehung zum Frieden beginnt mit der Höflichkeit.
So ungefähr ab dem 20. oder 30. Lebensjahr wurde mir klar, dass man nicht allein alles weiss; dass es viele Meinungen zur gleichen Sache gibt; dass Dinge, die wir bislang als selbstverständlich betrachteten, von anderen ganz anders beurteilt werden können. Und dass man für die andere Betrachtungsweise Respekt entwickeln muss. Kurz: Ich habe gelernt, Kompromisse zu schätzen.
Eine weitere Schwelle fühlt man vielleicht so zwischen 50 und 60. Ich jedenfalls wurde mir bewusst, dass der Mensch nie perfekt ist, sondern sich immer weiter anstrengen und bemühen muss. Sich bescheiden lernen, so nannte sich diese Weisheit.
Noch in diesem Monat werde ich nun 80. Gehöre ich nun zu jenen Älteren, von denen man lernen kann, wenn sie von früheren Jahren erzählen? Vielleicht. Aber auch für mich steht die Welt nicht still. Und Freude erfüllt mich, wenn ich daran denke, dass einem niemand das permanente Lernen nehmen kann. Es ist dem Menschen zutiefst eigen. Grossartig.
Heute erleben wir eine Zeitenwende, ganz besonders krass fällt uns das bezüglich unserer Sprache auf. Hybrid, woke, Inklusion, gendern, auch die KI – all diese Ausdrücke gehören zum heutigen Vokabular. Ich ertappe mich jedenfalls öfter als früher dabei, dass ich im Internet Sinn und Bedeutung von neu gehörten Wörtern suche.
Warum müssen wir Menschen dauernd dazulernen? Ja, warum? Hat es wohl damit zu tun, dass wir endliche, eben keine vollkommenen Wesen sind? Dass unsere Mangelhaftigkeit uns auf Schritt und Tritt zwingt, immer wieder von neuem, nach Gangarten zu suchen, die uns den Ideen, die wir haben oder entwickeln, näherbringen. Wir können immer nur hoffen, uns sehnen nach etwas; wir können etwas bewundern, etwas meinen – und dabei, wenn wir offen sind, auch immer etwas lernen. Aber das Schöne oder besser unsere Idee vom Schönen bleibt im besten Fall immer nur das Schönere, und das Bessere bleibt höchstens eine Steigerungsform des unvollkommenen Bestehenden. Ja, das Menschsein lässt uns immer nur den Ideen näherkommen, nie aber, sie zu haben oder sie zu sein. Das ist unsere Eigenart, immerfort nach dem Erträumten zu streben und dabei dazu zu lernen, ein Leben lang!
Und doch gibt es Momente im Leben, in denen wir das Gefühl haben, etwas zu begegnen, das uns als das Schöne schlechthin, als das Gute per se erscheint. Diese Augenblicke sind selten. Sie sind fast einmalige Erlebnisse, die in höchstem Masse beglücken. Sie fallen uns irgendwie in den Schoss. Es kann eine Begegnung mit einem Menschen sein. Es kann ein Aufeinandertreffen einer plötzlich gemeinsam empfundenen Erkenntnis sein. Es ist nur ein Augenblick, eine unerwartete Ahnung von irgendetwas Ewigem! Man ist sich ungewöhnlich nahe und staunt.
Übrigens: Während meiner politisch aktiven Jahre habe ich, glaub’ ich, viel und intensiv gelernt – auch aus Fehlern übrigens! So drei Monate lang Abend für Abend Wahlauftritte, in denen man von der Konkurrenz genauestens beobachtet wird, fordern einen. Zehnmal habe ich Wahlen erlebt. Es war hochinteressant. Dabei kommt mir eine lustige kleine Episode in den Sinn: Der Wahlkampf für den Sitz im Stadtrat, den ich als Kandidatin für das Stadtpräsidium glaubte erkämpfen zu müssen (damals so üblich, aber 1998 eigentlich ein Riesenfehler), fand gegen Sepp Estermann statt, der ein super guter Amtsinhaber war. Ich glaubte, mit einer Redewendung so quasi zeigen zu müssen, wie wichtig eine Veränderung sei und sagte bei verschiedenen Auftritten so ungefähr: Wir brauchen in Zürich wieder einen Hoffnungsschimmer, eine Art Morgenröte am Horizont. Einige im Saal nickten. Aber eines Tages antwortete Sepp darauf und sagte in einem ganz ruhigen Ton: Ist es nicht so, dass Aurora später am Tag noch weint? Sie ist doch die Verkünderin auch von Regen? Recht hatte er! Ich lachte aus vollem Herzen – vor dem ebenfalls schallend lachenden Saal!
Die geschilderte Aussage von Sepp Estermann verstehe ich nicht so ganz. Aurora ist die Morgenröte und Sinnbild des neuen anbrechenden Tages. Was der Tag schliesslich bringt, ob pralle Sonne, Wolken oder Regen, das sagt sie nicht. Wenn ich Sie recht verstehe, war das doch genau Ihre Botschaft, der Aufbruch in etwas Neues, oder?
Wie dem auch sei, Frau Weber; ich bin ein paar Jahre jünger als Sie und als ich die Politik für mich entdeckte, waren Sie mir in Praxis und Wissen weit voraus und gewissermassen ein Wegweiser, zusammen mit Ihrer Partei dem Landesring der Unabhängigen LDU. Dass Sie bei der Bundesratswahl 1989, als einzige weibliche Kandidatin für die Nachfolge von Elisabeth Kopp, nicht gewählt wurden, bestärkte mich in meiner Überzeugung, dass Frauen in der Schweiz diskriminiert und nicht für voll genommen werden. Als dann die LDU zehn Jahre später aufgelöst wurde, legte ich das Politisieren erstmal auf die Seite.
Mit dem lebenslangen Lernen haben Sie Recht; man lernt nie aus und das ist gut so. Mir ist nichts mehr zuwider als Menschen, die glauben und es auch noch laut hinausposaunen, dass sie DIE Wahrheit kennen. Und was kommt dann, Stagnation, das Nichts?
Das gestrige Interview bei Gredig direkt auf SRF1 mit Thomas Zurbuchen, Schweizer Astrophysiker und bis Ende 2022 Wissenschaftsdirektor der NASA meinte er u.a., er sei ein professioneller Zweifler. Jeder Schritt in das Unbekannte bringt neue Erkenntnisse und wirft alte Meinungen und bisherige Ansichten über Bord. Diese Einstellung finde ich überaus entlastend und sehr befreiend. Ich denke, manchmal sind wir einfach zu wenig mutig, denn obwohl wir Menschen endlich sind, geht es doch nach uns immer weiter.
Ich wünsche Ihnen von Herzen noch viele überraschende und beglückende Momente in Ihrem Leben.
Liebe Frau Mosimann, es ist genau, wie Sie das sagen (bezüglich der kurzen Geschichte bei den Wahlen 1998). Ich verband mit meiner Aussage bezüglich der Morgenröte, dass sich eine Hoffnung auf eine Wende abzeichnen sollte. Und natürlich meinte ich das nur im positiven Sinn – denn ich plädierte ja für mich. Aber Sepp Estermann wies eben daraufhin, dass die Wende auch in eine nicht so gute Richtung gehen könnte, nämlich der Tag auch Regen bringen könnte. Und damit hatte er total recht – und ich war geschlagen. Auf jeden Fall habe ich darauf das Beispiel nie mehr vorgebracht. Es war von mir einfach nicht genügend durchdacht. Herr Estermann hatte gewonnen. Das war klar. Und ich habe daraus gewisse Lehren gezogen.
Herzlichen Dank für Ihre wertvollen Hinweise – und schönen Abend
Monika Weber