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Geheimtipp in der Kunstszene

Sie malte das noch nie Gesehene mit Versatzstücken aus dem banalen Alltag: Die Ausstellung «Ilse Weber. Helle Nacht» in Chur eröffnet eine bildnerische Traumwelt in der Schwebe.

Über Sexismus und Gendersprache lässt sich streiten, aber eins ist im Kunstbetrieb des vergangenen Jahrzehnts nicht wegzudiskutieren: die Wiederentdeckung und Wertschätzung von Künstlerinnen, die trotz ihrer Bedeutung mehr oder minder vergessen waren. Nun also Ilse Weber (1908-1984): Begabt, kreativ und ein halbes Leben als junge Witwe und alleinerziehende Mutter genötigt, den Lebensunterhalt mit verkäuflicher Malerei und Kunst am Bau zu finanzieren, bevor sie sich neu erfindet.

«So wie Rosen aussehen. wenn, man sie nicht hat, im Winter». 1962. Eitempera auf Sperrholz. Privatbesitz

Mit der Ausstellung Ilse Weber. Helle Nacht bekommt das Werk der grossen Künstlerin, die vor 30 Jahren ihre erste Einzelausstellung im Kunsthaus Zürich hatte, nun eine neue Chance, wiederentdeckt oder auch neu entdeckt zu werden. Das Bündner Kunstmuseum ermöglicht einen repräsentativen Blick auf Webers Schaffen vom Moment ihres künstlerischen Durchbruchs bis zu ihrem Tod. Nach einem halben Leben als erfolgreiche Kunstschaffende – sie malte postimpressionistische Landschaften und Porträts – radikalisierte sie sich, weckte das Interesse der aktuellen Kunstszene der 60er und 70er Jahre und wurde gemeinsam mit der Avantgarde ausgestellt. Für Markus Raetz, Hugo Suter, Rolf Winnewisser war sie eine hochgeschätzte Kollegin. Noch heute ist Ilse Weber ein Geheimtipp unter Künstlerinnen und Künstlern.

«Leere Landschaft». 1944. Kohle auf Papier. Nachlass Ilse Weber. Diese frühe Zeichnung ist Ausgangswerk für die Retrospektive in Chur.

Eine Malerin, die junge Kunst macht, muss nicht jung sein. Aber Ilse Weber macht das, was in der Szene gerade probiert wird, ihre Werke werden beachtet, sie gehört dazu. Von 1960 an – sie war über fünfzig – verlässt sie den konventionellen Weg und suchte eine neue Wirklichkeit. In den Bildern gibt es bekannte Motive, aber die Grössenverhältnisse sind verändert, ihre Kompositionen sind expressiv, assozativ und sehr eigenständig. Sie denkt und malt zusammen, was zunächst nichts miteinander zu tun hat: eine Welt wie im Traum, bekannt und doch sehr fremd.

Im grossen zentralen Raum des Museums sind unter dem Titel Abendräume die Gemälde versammelt. Versatzstücke von Landschaften, Pflanzen, Bauteilen, Objekten werden in fantastischer Weise zusammengefügt, manchmal mit einem Rahmen versehen. Die Aussenwelt bekommt unerwartete Weiterungen in eine andere, innere Ebene der Gedanken, das Gefüge wird jeweils mit einem Titel erst recht zum Rätsel und animiert, noch länger hinzuschauen. Ilse Weber hat für sich eine neue Bildsprache erfunden, weil sie sich nach Jahren der Brotarbeit als Künstlerin gesagt hat, sie wolle «etwas malen, was ich noch nie gesehen habe.»

«Der Wald». 1970. Öl auf Leinwand. Sammlung Ricola

Die Zeichnung wurde ihr bevorzugtes Medium, nicht als Skizze, sondern als fertiges Bild auf dem Einzelblatt. Museumsdirektor Stephan Kunz versucht mit der Schau, den inneren Zusammenhang im Gesamtwerk zu zeigen, daher folgt er nicht streng der Chronologie. So wird sichtbar, welche Themen und Motive Ilse Weber umtreiben, weil sie sich manchmal über längere Zeiträume hinweg selbst zitiert. Gleich sichtbar in den drei Fassungen des Stücks vom Götterbaum.

Durch acht Räume – jeweils mit einem einordnenden Bildtitel versehen – führt der Gang durch die Ausstellung. Am Beginn stehen Bilder von Leere, vom Schweben, vom Wind. Ausgangspunkt ist die Zeichnung Wie eine Landschaft von 1944, eine einsame Frau mit Kind, Witwe und Waise vielleicht. Ilse Webers Mann, der Kunstmaler Hubert Weber stirbt 1944 an Herzversagen, die Tochter ist kaum drei Jahre alt.

«Wasserstern». 1976. Bleistift, Farbstift und Aquarell auf Papier. fabbrica culturale baviera

Nach der Rückkehr in die Heimat baut sich Ilse Weber ein Atelierhaus in Wettingen und wird mit grösseren Ausstellungen im Aargauer Kunstmuseum (1967) und in der Luzerner Galerie Raeber (1972, 1975) bekannt. 1974 mietet sie sich in der ehemaligen Spinnerei Wettingen eins der Ateliers mit Blick aufs Wasser der Limmat. Einige ihrer Arbeiten zeigen kahle Innenräume, in denen ein Wasserspiel aus der Decke, oder ein Fluss aus der Wand strömt. Einmal unheimlich, einmal anmutig, fliesst Wasser, suggeriert hier Dauerregen, dort ein Märchen, wenn der Wasserstrahl zur schichttortenartigen Blume am Fussboden gerinnt. Nicht auszuschliessen, dass Ilse Weber von Roman Signer, der auf dem Fluss Experimente veranstaltete, inspiriert war. Aber die Malerin hat kein Tagebuch geschrieben und viel Korrespondenz ist verloren gegangen. Wenigstens im Nachlass des Galeristen Anton Meier sind ihre Briefe erhalten geblieben. Ilse Webers Skizzenbücher waren meist ohne Text, dafür gibt es eingeklebte Zeitungsausschnitte jeglicher Art. Einige der Materialhefte liegen in einer Vitrine auf, geben Aufschluss, was sie interessant fand und deshalb einklebte.

Blick in eins der Material- und Skizzenhefte. Nachlass Ilse Weber

Figuren tauchen in Webers Werk selten auf. Aber im Raum vier mit dem Titel Wanderer ist jeweils ein meist winziger Mann in einer grossen leeren Landschaft zu entdecken. Das Flüchtige, Ephemere zeigt sich auch in den Gegenständen, beispielsweise den Flaschen oder Stühlen, die sie mit dem Stift zügig und endgültig zugleich hingeworfen hat. Das Kapitel Nachtcapriccio, genannt nach dem Bild mit der Abalonenschale und dem Kamm von 1981 vereint mehrere Gouachen und vor allem immer wieder das Thema vom Bild im Bild, vom gemalten Rahmen um ein Stück Natur oder um fliessendes Wasser.

«Le Refuge – Mon Art». 1983. Kohle und Aquarell auf Papier. Nachlass Ilse Weber

Nur der allerletzte Raum hält sich an die Chronologie. Es sind die Americana, Papierarbeiten, die Ilse Weber in Amerika bis zu ihrem Tod 1984 hinterliess, nachdem sie mit ihrer Tochter und späteren Biographin Marie-Louise Lienhard und deren Familie ausgewandert war. Auch wenn die Zeichnungen und Aquarelle scheinbar Geschichten erzählen, bleiben sie im Rätselhaften, selbst dann, wenn das Dargestellte eigentlich ganz einfach zu lesen ist, etwa jenes Aquarell von 1984, das nach Webers Tod noch auf der Staffelei stand: Es heisst The Side Entrance und zeigt auf einem Rasenstück einige marode Treppenstufen, die zu einem Türrahmen führen – dahinter bleibt es dunkel.

Die acht Kapitel im Museum erlauben, Ilse Webers Werk neu zu erfahren und zu lesen. Rund 130 Arbeiten sind ausgestellt, nicht wenige sind Leihgaben von Künstlern oder aus deren Nachlässen. Auch das Begleitbuch folgt dieser Einteilung, und die Texte von Stephan Kunz, Elisabeth Bronfen und Romina Ebenhöch, sowie ein Gespräch mit Rolf Winnewisser und Silvia Bächli, beide Kunstschaffende, wollen auf die Bedeutung von Ilse Weber als einer der wichtigsten Schweizer Künstlerinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinweisen.

Titelbild: «Nachtcapriccio». 1981. Bleistift und Gouache auf Papier. Aargauer Kunstmuseum Aarau. (Copyright sämtlicher Bilder: Nachlass Ilse Weber/Bündner Kunstmuseum Chur)
Bis 30. Juli
Informationen für Ihren Besuch von Ilse Weber. Helle Nacht im Kunstmuseum Chur.
Begleitbuch: Ilse Weber. Helle Nacht. Hg. von Stephan Kunz und Romina Ebenhöch. Bündner Kunstmuseum Chur. Verlag Scheidegger & Spiess, 2023.
ISBN 978-3-03942-144-2

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