Wen lockt es nicht, dem Frühling entgegenzufahren. Wer im Wallis, im Kanton Bern oder Solothurn wohnt, kann durch Lötschberg und Simplon bequem nach Domodossola fahren.
An einem Samstag – für die Alpennordseite war nasskaltes Wetter angesagt – bestieg ich den Zug nach Domodossola. Gut besetzt war er, zu meiner Überraschung, denn um nach Mailand zu fahren, hätte man umsteigen müssen und Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Das hatten wohl die wenigsten vor. Bei der Ankunft im kleinen Bahnhof drängten sich die Menschen durch die Unterführungen, und ein Strom von Kauflustigen und Neugierigen ergoss sich auf die Verkaufswagen, die in vielen Gassen des kleinen Städtchens aufgebaut waren.
Im Zentrum des Städtchens
Samstag ist nämlich Markttag in Domodossola. Das wusste ich aus vielen Erzählungen von Bernerinnen, die mit Vergnügen gleich jenseits des Alpenkamms nach schönen Dingen und Schnäppchen suchten. Ein Markt in Italien lässt sich mit unseren Märkten nicht vergleichen, weder mit den Wochenmärkten noch mit den speziellen Weihnachtsmärkten. In Domodossola können Sie (fast) alles kaufen: Lederwaren und Schuhe, früher nur aus Italien, heute auch aus Asien; Kleider von überall her, teils schick, teils billig; modische oder praktische Jacken; Töpfe, Teppiche, Schmuck, Spielwaren und vieles andere. Auch ein paar Stände für die italienischen Spezialitäten wie Käse, Salami, Schinken, zwei, drei Stände mit einheimischen Früchten und Gemüse sehe ich. – Eine vollständige Aufzählung ist unmöglich.
Der traditionelle Marktplatz. Dort sind die Gassen so eng, dass die Transportautos der Händler nicht hinfahren können.
Ebenso vielschichtig ist das Publikum, keineswegs nur Schnäppchenjäger und sparsame Hausfrauen, ganze Familien flanieren den Ständen entlang. Junge und Alte, sie sprechen Italienisch, Schweizerdeutsch, Hochdeutsch, Französisch. Aus den Gesprächen erfahre ich, dass viele immer wieder kommen und mit einzelnen Händlern bekannt sind.
Diese Märkte sind eine Art Freiluftkaufhäuser. Sie sind in vielen Städten Italiens zu finden. In Ancona spazierte einmal eine gutsituierte Dame mit mir zum dortigen Markt, nicht um mir eine touristische Attraktion zu zeigen, sondern für den Fall, dass ich etwas entdeckte, was mir gefiel.
Dieser Händler hat sich einen ruhigen Platz am Rande gesucht.
Domodossola und seine pittoreske Altstadt, il borgo, lohnt zweifellos einen Besuch. Damit man die engen Gässchen zur Gänze anschauen kann, lohnt es sich zu warten, bis die Marktstände abgebaut sind, oder an einem anderen Tag zu kommen. Ein Erlebnis ist die Fahrt nach Locarno oder umgekehrt. Die Landschaft ist sehenswert, und wenn man aus der Regionalbahn aussteigt, fühlt man sich wegen der Serpentinen wie nach einer Schifffahrt auf stürmischer See. Ticino Turismo empfiehlt einen Ausflug nach Domodossola. Von Bern her dauert die Fahrt weniger lang als von Locarno aus.
Ohne Handelswege kann ein Marktort nicht aufblühen. Vom Wallis aus wurde die Verbindung nach Italien über Domodossola seit dem Spätmittelalter gepflegt, wenn auch über Jahrhunderte nur über Saumpfade. Walliser Händler überquerten mit ihren Maultieren den Simplon, der begehbar, aber nicht befahrbar war. Der einflussreiche Kaspar Stockalper aus Brig, unter anderem Inhaber des Salzmonopols, liess den Pfad instandhalten, so dass der Pass auch Via Stockalper genannt wurde.
Die Hauptkirche, den Heiligen Gervasio und Protasio gewidmet. Auch hier haben Autos keinen Platz.
Dann kam Napoleon. Nachdem er sich gegen den russischen Feldherrn Suworow durchgesetzt hatte, suchte er einen weiteren Alpenübergang. Zwischen 1801 und 1805 liess er den Saumpfad für seine Artillerie zu einer Passstrasse ausbauen. Seitdem konnten auch Postkutschen den Simplon benutzen. Über die bewegte Geschichte des Simplonpasses gäbe es noch viel zu erzählen.
Blick auf die Alpengipfel (alle Fotos mp)
Zum Schluss sei ein Rekord mit tragischem Ende erwähnt: Das 20.Jahrhundert gilt als Jahrhundert der Fliegerei, besonders die ersten Jahrzehnte. Ein grosses Ziel war die Überquerung des Alpenkamms. Aus verschiedenen technischen, meteorologischen und fliegerischen Gründen entschloss sich ein Team um Jorge Chávez-Dartnell, einem französisch-peruanischen Doppelbürger, einen Flug von Brig nach Domodossola zu starten. Das war 1910 eine Pionierleistung, denn in so grosser Höhe war bis dahin noch kein Motorflugzeug geflogen.
Dem 23-jährigen Pilot gelang der Flug, aber beim Anflug auf Domodossola stürzte das Flugzeug ab, die Konstruktion aus Holz, Stahlrohren und Segeltuch ging in die Brüche, und Chávez wurde so schwer verletzt, dass er wenig später im Spital von Domodossola verstarb. Die Betroffenheit in den Reihen der Flugbegeisterten war gross. Sowohl in Brig als auch in Domodossola wurde ihm ein Denkmal gesetzt. In Domodossola entdeckte ich ein Restaurant, das seinen Namen trägt. In Literatur und Film bewegt sein Schicksal bis heute.
Hier ein Bericht über den Flug von Jorge Chávez-Dartnell, auch (frz.) Geo Chávez genannt.
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