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Widerständige Melancholie

Was hat der Schriftsteller Erich Kästner (1899-1974) mit einer friedlichen Zukunft zu tun? Das ergründeten der Germanist Henning Kurz und die Schauspielerin Martina Rick-Buser als meine Gäste am 20. April in Sissach. Die Anselm König Band begleitete das Gespräch im Cheesmeyer Kulturbistro mit eindrücklichen Kästner Songs, auch pazifistischen – gegen den Krieg.

Erich Kästner wurde, 18-jährig zum Wehrdienst aufgeboten, im 1. Weltkrieg Pazifist. Sein Jugendbuch Emil und die Detektive erschien 1931, Das fliegende Klassenzimmer 1933. Im selben Jahr schaute der ältere Emil zu, wie sein Roman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (1931) und weitere Schriften von ihm verbrannt wurden. Kästner kritisierte den aufkommenden Faschismus. Er engagierte sich für eine friedliche Welt und hoffte, Mut zur Trauer und zur Melancholie könnten eine widerständige Haltung fördern.

Kästners Lyrische Hausapotheke kam 1936 notgedrungen in der Schweiz heraus. Der «Lebensautor» empfiehlt, eine melancholische Skepsis. Sie bewahrt laut Henning Kurz vor zynischem Pessimismus und verzweifeltem Optimismus. Ja, Melancholie sei in unserer Gesellschaft weder trendy noch hip, gehöre aber zum Menschsein. Sie schaffe «als Schwester des Humors» eine hilfreiche Distanz, auch zu sich selbst. Wie eine «Narzissmus-Prophylaxe». Und sie imprägniere gegen Angriffe des Zeitgeistes. Die Melancholie mache zudem skeptisch, wenn die Phrasendrescherei anlaufe. Und sie setze der marktschreierischen Eventkultur, die Glück mit hysterischer Euphorie verwechsle, eine «Kultur der Nachdenklichkeit» entgegen. So biete Kästner mit seiner «praktischen Alltags-Psychologie» keine wohlfeilen Rezepte an. Er betrachte Menschen nüchtern «als soziale und zwiespältige Wesen».

Wie aktuell Kästner ist, veranschaulichte Martina Rick-Buser anhand seines Tagesbuchs Notabene 45 (1961) aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Aufzeichnungen machten erlebbar, wie sich so etwas anfühle. So halte denn Kästner dafür, Gefühle und Trauer lebendig zuzulassen. Weithin bekannt ist sein Ausspruch: «Sei traurig, wenn du traurig bist, und steh nicht stets vor deiner Seele Posten! Den Kopf, der dir ans Herz gewachsen ist, wird’s schon nicht kosten.» Martina Rick-Buser knüpfte daran an. Zunächst löse Trauer oft Abwehr aus. Zumal sie an das erinnere, was wir ungern spürten. Kästner fordere indes dazu auf, auch das aufzunehmen, was schwierig ist. Und dazu brauche es eben Mut zur lebendigen Trauer. Wie zur Melancholie.

Melancholie bewegt sich laut Kurz zwischen Idealismus und Pessimismus. Ein Fatalist könne leicht depressiv werden. Und der Idealist renne gerne mit dem Kopf gegen die Wand. Dabei spielten gesellschaftliche Kontexte mit. Sie forderten uns dazu auf, «stets glücklich, dynamisch, fit und selbstoptimierend unterwegs zu sein». Drum seien Kästners «Lizenz zur Traurigkeit» und «Mut zur Melancholie» so heilsam. Wobei Kästner klar in der Tradition der Aufklärung und des Humanismus stehe. Nur wenn sich die Vernunft und die Liebe durchsetzen, sei eine friedliche Zukunft möglich. Eine Gesellschaft, die auf das Haben erpicht sei, könne keine friedliche sein. Und so seien bei Kästner eigentlich Kinder die Vernünftigen. «Ach, bleibt so klug, wenn ihr erwachsen seid», ruft er ihnen in seiner Ansprache zum Schulbeginn (in: Kleine Freiheiten, 1952) zu. «Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch!»

Titelbild: Ueli Mäder. Foto: © Christian Jaeggi
Die Sissacher Gespräche zu einer friedlichen Zukunft, konzipiert und moderiert vom emeritierten Basler Soziologen Ueli Mäder, gehen in die achte Runde: «Die Welt verstehen. Wie gehen Peking und Washington mit ihren Rivalitäten um? Was tut sich im umwordbenen Afrika, was im neutralen Österreich – vergleichbar mit der Schweiz?» Darüber diskutieren auf Einladung von Ueli Mäder Karl Kränzle (eh. China- und USA-Korrespondent), Regula Renschler (Autorin von «Timbuktu so nah») und Joe Schelbert (eh. Redaktor Echo der Zeit). Sissach, Kulturbistro Cheesmeyer, 25. Mai 19 Uhr.

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