StartseiteMagazinGesellschaftDie AHV lässt alte Behinderte im Stich

Die AHV lässt alte Behinderte im Stich

Ab dem Rentenalter ersetzt bei den Hilfsmitteln die knausrige AHV die grosszügige IV. Dies bedeutet, dass Seniorinnen und Senioren mit Behinderungen hohe Kosten zu tragen haben. Wer das nicht kann, wird vom Leben abgehängt.

Vor vier Jahren hat Seniorweb über Lina Müller berichtet (Name geändert). Sie leidet an den Spätfolgen der Kinderlähmung. Und an den schwer verständlichen Differenzen zwischen IV und AHV. Die Invalidenversicherung übernimmt weit grössere Leistungen für Mobilitätshilfen und Barrierenfreiheit als die AHV. Dies bedeutet, dass Lina Müller ihr gesamtes Erspartes für einen Elektrorollstuhl und für Wohnungs- und Autoumbauten opfern muss. Vor ihrer Pensionierung hätte die IV diese Kosten übernommen.

Mit diesem Artikel aktualisieren wir den damaligen Beitrag. Wir berichten über Veränderungen, neue politische Vorstösse und vergleichen unsere Regelungen mit jenen in Deutschland.

Unser Sozialsystem berücksichtigt nicht, dass im Alter Beeinträchtigungen zunehmen. Und es vernachlässigt jene Menschen, die erst im AHV-Alter behindert werden. Behinderten droht nicht nur die Zuständigkeitslücke. Das Beispiel von Lina Müller zeigt, dass Handicapierte aus dem Mittelstand besonders betroffen sind. Behinderte mit kleinem Budget und Vermögen können im AHV-Alter unter anderem bei der Pro Senectute anklopfen. Lina Müller gehört nicht zu dieser Gruppe. Sie muss den Grossteil ihres Ersparten opfern um weiterhin aktiv am Leben teilzunehmen. Wenn weitere teure behindertengerechte Anpassungen nötig werden, droht die Armutsfalle.

«Katastrophale Situation»

Francesca Rickli hat 2019 ihre Doktorarbeit an der Universität Zürich diesem Thema gewidmet. Die Ethnologin hat während 16 Monaten über 30 Seniorinnen und Senioren interviewt und begleitet. Die meisten litten schon vor der Pensionierung unter Mobilitätseinschränkungen. Eine kleinere Gruppe wurde erst im AHV-Alter damit konfrontiert. Ethnologin Rickli bestätigt heute die damaligen Erkenntnisse. Sie spricht von einer Zuständigkeitslücke zwischen IV und AHV. Die ungenügenden Leistungen würden zu einer «zerbrechlichen Routine» führen. Die Betroffenen nützen Spitex, Mobilitätsdienste und die verbliebenen Hilfsmittel. Fragil sei die Situation, weil auch Familienangehörige beteiligt sind. «Stirbt zum Beispiel der Lebensgefährte, bricht dieses Gefüge auseinander.»

Die IV soll gemäss Gesetz Menschen ins Erwerbsleben integrieren, die AHV die Existenz sichern. Diese Unterscheidung ist veraltet. Sie widerspricht den Aufgaben, welche die Seniorinnen und Senioren heute übernehmen. Sie engagieren sich als Freiwillige, sie betreuen Angehörige, sie leisten als Grosseltern Familienarbeit. Indem die AHV den Behinderten dies verunmöglicht, entzieht sie der Allgemeinheit Ressourcen.

Wenn Seniorinnen oder Senioren neu ein teureres Hilfsmittel benötigen, mussen sie viel Geld in die Hand nehmen.

Annette Paltzer bestätigt die Missstände. Sie ist Präsidentin von Age Plus. Der Verein will die Situation von Behinderten im Alter verbessern. Die Soziologin und Heilpädagogin hat seit ihrer Geburt eine zerebrale Bewegungsstörung. Sie bezeichnet die Situation als «katastrophal» und macht die Politik dafür verantwortlich. Diese habe das System falsch aufgestellt und erkenne das Problem erst schleppend. Ausserdem erfülle die Schweiz noch zu wenig die Uno-Behindertenrechtskonvention, die sie unterzeichnet hat.

Langer Weg durch die Instanzen

Immerhin ist das Problem in den letzten Monaten bei der Schweizer Politik ins Blickfeld geraten. Die Nationalrats-Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit hat letzten Herbst eine Motion eingereicht. Die Kommission fordert, dass die AHV den Behinderten im Alter eine «smarte Auswahl» von Hilfsmitteln zur Verfügung stellt. Dies soll den Betroffenen ein eigenständiges Leben ermöglichen und den Heimeintritt verzögern. Der Bundesrat lehnt den Vorstoss ab. Seine Begründung: Die Kantone seien zuständig und die AHV könne die grossen Mehrkosten nicht übernehmen. Wann sich der Ständerat mit der Motion befassen wird, ist noch offen.

Mit einem Postulat wünschte der Neuenburger SP-Nationalrat Baptiste Hurni im März vom Bundesrat einen Bericht, wie die «Ungerechtigkeiten» zwischen IV- und AHV-Hilfsmittelbezügen zu beseitigen seien. Den von zwölf Mitunterzeichnenden geförderte Vorstoss hat der Nationalrat noch nicht behandelt.

Bis Lina Müller die ihr zustehenden Entschädigungen erhält, muss sie noch lange warten.

Links
Lina Müller vor vier Jahren
Parlamentarische Geschäfte
Postulat Baptiste Hurni (SP)
Motion «Smarte Auswahl von Hilfsmitteln»


In Deutschland erhält 93-Jährige einen Lift

Auch Deutschland ist kein Hilfsmittel-Schlaraffenland. Doch sind dort Leistungen möglich, die bei uns undenkbar wären. In letzter Instanz hat kürzlich ein Gericht entschieden, dass die Pflegekasse den grössten Teil der Kosten für einen Aufzug zu tragen hat. Der Lift ermöglicht einer 93-Jährigen ins obere Stockwerk zu gelangen. Der Fall musste den ganzen Behördenparcours durchlaufen. Das zeigt, dass die Versicherungen die Anfragen ebenso heftig bekämpfen wie bei uns.

Doch in Deutschland schützen die Gesetze Seniorinnen und Senioren mit Behinderungen besser als in der Schweiz. Das System ist kompliziert. Zusammenengefasst: Das Nachbarland kennt nicht nur obligatorische Krankenversicherungen. Seit 1995 müssen alle auch Mitglied einer Pflegekasse sein. Diese differenzieren ihre Leistungen nach Pflegestufen – und nicht nach Alter.

Bleiben wir beim griffigen Beispiel eines Rollstuhls. Erleichtert dieser die Pflege, zahlt die deutsche Pflegekasse. In allen anderen Fällen ist nicht wie bei uns die IV und später die AHV zuständig, sondern ausschliesslich die Krankenkasse. Um einen Rollstuhl zu erhalten, brauchen die Betroffenen eine ärztliche Verordnung, ein Rezept. Die Kasse überprüft den Antrag und zahlt meistens. Nochmals: Das Alter der Beeinträchtigten spielt in Deutschland keine Rolle.

Bilder: Peter Steiger, Pixabay

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1 Kommentar

  1. Von meiner ehemaligen beruflichen Tätigkeit her, kenne ich das Problem der Ungleichbehandlung von IV-und AHV-Rentner*innen gut. In vielen westlichen Demokratien gilt bei gesetzlichen und sozialen Leistungen in erster Linie das Bedürfnis der Menschen und nicht das Alter. Leider fördert unser politisches System, damals wie heute, schnelle und nötige Umsetzungen von Verbesserungen im Sozialwesen nicht, besonders wenn es die Schwächeren in unserer Gesellschaft betrifft, die keine Lobby haben.

    Da hilft nur vermehrter Druck durch Aufklären und lautstarkes Fordern von Massnahmen. Der gestrige Frauenstreik machte es uns vor!
    Unsere Vertreter*innen in Politik, Wirtschaft und Institutionen, und auch wir Alten selber, sind m.E. immer noch viel zu leise und treten zu wenig mutig für unsere legitimen Rechte und Bedürfnisse ein. Wie sollen sich das Bild der Ü65-Jährigen und der Respekt in der Öffentlichkeit ändern, wenn wir uns gesamthaft nicht mehr dafür einsetzen? Machen wir uns bewusst, dass der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung jedes Jahr kontinuierlich ansteigt und, dass wir für eine funktionierende Gesellschaft genauso wichtig und ernst zu nehmen sind, wie alle anderen.

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