Gemeinsinn meint, dass der Mensch mit anderen Menschen das selbstverständliche und übliche Verhalten in einer Gesellschaft teilt. Dieser Gemeinsinn fehlte bei der wiederholten Abstimmung über das Covid-19-Gesetz. Das Selbstverständliche wäre gewesen, das Ergebnis der ersten Abstimmung, das Ja zum Gesetz, zu akzeptieren. Dies war auch nach dem zweiten Ja nicht der Fall. Also riefen die Massnahmengegner das Volk ein drittes Mal an die Urne, die wiederum das gleiche Ja ergab. Die Kommentare der Verlierer lauteten, sie hätten einen Achtungserfolg erzielt, um zugleich zu propagandieren, sie würden im Herbst bei den Wahlen antreten. Die lässt vermuten, dass die dritte Abstimmung bloss Mittel zum Zweck war und damit das übliche Verhalten von Verlieren spiegelt.
Das Missverständnis gegenüber Staat und Gesellschaft erhält mit dieser dreifachen Abstimmung zusätzliche Nahrung zu der eh schon wenig durchdachten Vorstellung, alles sei relativ, also abhängig von dem, was einer denke und wie er eine Sache wahrnehme. Aber ist dem wirklich so? Ich sehe einen Baum. Er kann nicht relativ sein, weil ihn alle auch sehen können. Die einen finden ihn schön. Die anderen beurteilen ihn nach seinem Ertrag. Wieder andere finden, er stehe am falschen Ort. Diese Urteile können wechseln und sind relativ, nämlich in Relation zu demjenigen, der ihn wahrnimmt und beurteilt. Wenn die meisten Menschen ihn schön finden, herrscht eine gewisse soziale Übereinstimmung, und diese zählt zum Gemeinsinn. Wer dies nicht akzeptiert, wird zum Sonderling und wird oft nicht ernst genommen.
Wenn eine Mehrheit einem Gesetz zustimmt, dann darf dies vorerst als abgeschlossene Sache gelten. Das Urteil stimmt mit dem Gemeinsinn der Gesellschaft überein. Dieser Gemeinsinn basiert auf der demokratischen Kultur, auf einer bewährten Tradition, die unser Land geprägt hat. Würde man von ihnen abweichen, hätte das wohl gravierende Folgen. Mit der dreifachen Abstimmung in der gleichen Sache mit dem gleichen Resultat haben die Initianten den Gemeinsinn strapaziert, obwohl dies natürlich nach demokratischen Prinzipien erlaubt ist.
Der gedeihende Staat und wie das Leben der Einzelnen im Alltag genauso werden von einem Boden getragen, der auf zahlreichen Selbstverständlichkeiten beruht; wie auf die Anerkennung der Würde des Menschen, auf Dankbarkeit, Höflichkeit und Anstand. Wenn nun eine Minderheit die Mehrheit zwingt, über das gleiche Gesetz, das in einem ersten Urnengang schon beschlossene Sache ist, ein zweites und ein drittes Mal abzustimmen, ist dies eine Zumutung und kann als mangelnder Anstand empfunden werden. Die Stimmen der Mehrheit werden missachtet und nicht ernst genommen. Darin manifestiert sich ein fehlender Gemeinsinn. Wenn sich diese Haltung ausbreitet, dann bleibt sie nicht ohne Folgen für das gegenseitige Verstehen und Handeln im demokratischen Staat. Das Unbehagen nimmt zu und der Käfer des Misstrauens nagt am Volkskörper. Der fehlende Gemeinsinn greift auch andere Werte an.
Im NZZ-Artikel* «Frankreich brennt» wird auf die moralische Verwilderung im Nachbarstaat verwiesen. Fourquet verfasste auf Antrag von Präsident Macron eine Analyse der Situation und spricht in diesem Zusammenhang von «décivilisation». Das ist meiner Meinung nach der grenzenlose Zerfall des Gemeinsinns, welcher sich in schwächerer Form auch bei uns auszubreiten droht.
*Pascal Bruckner: Frankreich brennt, NZZ 22. Juni 2023
Das Szenario eines grenzenlosen Zerfalls unseres bisher als selbstverständlich erachteten Gemeinsinns ist eine traurige Tatsache. Doch bevor wir dabei an Frankreich oder andere Länder denken, sollten wir vor der eigenen Türe kehren. Wenn wir ehrlich sind, wissen wir doch schon lange, dass in unserem Land andere Werte zählen. Der Gemeinsinn, das Gemeinwohl, ist zwar die Grundlage unserer Verfassung und die Richtschnur unserer demokratischen Gesetzgebung, jedoch das Gesetz des Geldes und der Profit mächtiger Unternehmen und reicher Einzelner ist doch weit wichtiger geworden als das Gemeinwohl. In anderen reichen Ländern ist das sicher ähnlich, weil Überfluss und Reichtum, besonders bei ungleicher Verteilung, die demokratischen Werte erodieren lassen und die Machtverhältnisse in Schieflage bringen.
In Frankreich begehrt das Volk auf, geht lautstark auf die Strasse und wehrt sich gegen die empfundenen Missstände. Allen wird klar: Es brennt! Und die Schweiz? Kein Land geht m.E. so scheinheilig mit dem Machtgefälle um wie wir. Wir stapeln gerne tief und sonnen uns bei jeder Gelegenheit in einem edlen und falschen Selbstbild; wenn jedoch der Profit ruft, sind wir an vorderster Front dabei.
Diese Haltung wird uns vom Ausland vermehrt laut übel genommen, wie jüngst in der Diskussion um unsere «heilige Kuh» die Neutralität und ihre Auswirkungen in einem brutalen Krieg in Europa, der uns nachdenklich stimmen sollte. Wenn die Schweizer*innen nicht den Mut aufbringen ihre Haltung gegenüber Europa zu überdenken und Realitäten offen und zeitnah zu diskutieren sowie dringende Entscheide für die Zukunft zu treffen, ohne sich ständig im politischen und wirtschaftlichen Hick-Hack und persönlichen Ressentiments zu verlieren, wird unser Land bald die abgeschottete Insel sein, wie manche es gern hätten.