Mich ärgern solche Kurztitel. Er stand über einem Interview*, auf das ich nicht eingehen möchte. Titel oder Behauptungen dieser Art liest man fast jeden Tag. Sie scheinen mir deshalb gefährlich, weil sie wie eine abschliessende Behauptung daherkommen. Wenn Sokrates sagt: «Ich weiss, dass ich nichts weiss», so lässt uns diese Aussage nachdenken, wie sie gemeint ist. Sokrates wusste von dem, was man wissen konnte, sehr viel. Sein Nichtwissen kann sich nur auf die letzten Dinge beziehen, die man nicht entschlüsseln kann. Ein Kollege hat dieses sokratische Nichtwissen mit einer Metapher veranschaulicht: «Die (letzte) Wahrheit kann man nicht besitzen, man kann sie nur suchen, und wenn man glaubt, sie gefunden zu haben, entschlüpft sie einem wieder, und man muss weitersuchen, immer weiter. Es ist mit der Wahrheit fast wie mit einem schillernden Regenbogen: Wie sehr man sich ihm auch nähern will – immer weicht er zurück. Und doch lässt er niemanden unberührt und weckt in allen Menschen die Sehnsucht, in seine wundersame Farbenpracht einzutauchen.»**
Dieses Zurückweichen gilt für die Wahrheit, nicht aber für Wahrheiten. Die letzte Wahrheit bleibt verborgen. Man kann sie ahnen oder an eine glauben, aber man besitzt das Wissen um sie nicht. Das Verwirrende an dem zitierten Titel besteht darin, dass man nicht weiss, um welche Art Wahrheit es sich handelt und das Interview klärt die Leserin und den Leser nicht auf. Es ist nicht zu leugnen, dass es zahlreiche Wahrheiten gibt. Es sind meist Tatsachen-Wahrheiten. Gäbe es sie nicht, wären Gerichte überflüssig.
Es gibt also millionenfach Wahrheiten, die nicht geleugnet werden können. Jedes Auto, das gebaut wird, besteht aus wahren Erkenntnissen. Die Technik beruht auf wissenschaftlicher Forschung. Wir laufen oft Gefahr, die Wissenschaften zu verteufeln, obwohl unser tägliches Leben und seine Bequemlichkeit von ihnen abhängen. Wer die Wissenschaften kritisiert, müsste zuerst sich selbst kritisieren, zumindest sich fragen, ob wahr sei, was er gegen sie behauptet. Wissenschaftler wissen, dass ihre Erkenntnisse erst als solche gelten, wenn bewiesen ist, dass sie real sind, bei technischen Dingen, dass sie funktionieren.
Dass ein Regenbogen unter physikalisch genau bestimmbaren Voraussetzungen entsteht, entspricht der wissenschaftlichen Erkenntnis oder Wahrheit. Wer nicht in einem Winkel von 42 Grad zu ihm steht, sieht ihn nicht und doch ist er da. Oft wird etwas nicht als wahr akzeptiert, weil der Blickwinkel fehlt. So können Dinge behauptet werden, weil es an der richtigen Distanz fehlt. Als die Schüler Sokrates einmal als weise bezeichneten, widersprach er ihnen und er bekannte nur gerade, seine Weisheit bestehe darin, dass er wisse, dass kein Sterblicher weise sein könne. So blieb er über zwei Jahrtausende das Vorbild des fragenden und diskutierenden Menschen und führte in langfädigen Dialogen zu dem Wesen oder dem Kern der Dinge, die man wissen konnte. Nur Sophisten, die um ihrer Honorare willen, die Schüler lehrten, verhöhnte er. Sie unterrichteten sie in der Fähigkeit, Zuhörer mit blossen Worten zu überzeugen. Er ertrug ihre Spitzfindigkeiten, ihre Selbstvoreingenommenheit und ihr Gerede nicht. Und manchmal denke ich, auch Journalisten dürften etwas genauer überprüfen, wie sie Titel setzen.
*Luzerner Zeitung, 26. Juni, **Arthur Brühlmeier in einem Brief an mich zum Thema «Die Wahrheit».
Über das Thema Wahrheit zu philosophieren, insbesondere über diejenige der Medien, halte ich für Zeitverschwendung. Abgesehen davon, dass jeder Mensch seine eigenen Wahrheiten in seinem gedanklichen Universum hat, gibt es leider heute kaum mehr eine mediale Quelle, der man punkto Wahrheit noch wirklich vertrauen kann. Früher gab es die Wahrheit und die Lüge, vielleicht noch den Irrtum. Als wissens- und wahrheitsdurstiger Mensch von heute, werden wir konfrontiert mit einem journalistischen Einheitsbrei, einer Schlagzeilenflut und jede Menge Fakes und KI-gesteuerten Informationen im Internet.
Aristoteles kannte diese Art der Wahrheitsfindung und -wiedergabe nicht. Recht hat er natürlich damit, dass wir am Ende unseres Lebens die letzte Wahrheit nicht kennen. Zum Glück, kann ich nur sagen.
Es ist interessant, das Thema Wahrheit zu erforschen, und zu entdecken, wie viele verschiedene Gesichtspunkte und Definitionen im Austausch auftauchen. Ich bin mit Herr Iten einverstanden, solche «absolute» Aussagen hoeren wir oft von jenen, die meinen sie wuessten die Wahrheit. Im relativen Bereich ist es vernuenftig, messbare «Fakten & Daten» bewiesenermassen als «wahr» anzunehmen. Das hat viele Vorteile – auch wenn es Ausnahmen gibt.
«Pono» ist eine der 7 Huna Weisheiten (Hawaii) – und heisst soviel with «wahr ist was funktioniert». Adyashanti, ein Lehrer von nondualer Spiritualitaet, schlaegt vor es gaebe zwar keine absolute Wahrheit, aber gewisse Aussagen koennen mehr wahr sein als andere.
Mich interessiert die Wahrheit, die jenseits des bewusst erfahrenen und erfoschten Bereiches liegt: Die Quelle alles Seins. Intellekt und Worte koennen jene Wahrheit nicht direkt wahrnehmen oder verstehen. Ob sie existiert oder nicht ist schwierig zu sagen, und haengt von philosophischen Definitionen ab: Der Ursprung alles Seins ist kein «Ding», d.h. kein Objekt, das von einem Subjekt erkannt wird. Es ist alles Eins, das heisst, es gibt nichts, was im Ursprung alles Seins nicht inbegriffen ist. Die Welt von Subjekt und Objekt ist ein Ausdruck dieser Einheit, die Zeit und Raum transzendiert. Koennen wir diese Phenomene wissen oder kennen? Ich denke kaum, da sie jenseits des menschlichen Wahrnehumungs- und Verstaendisfeldes liegen, wobei «liegen» auch fraglich ist: «Einheit» ist eben kein Ding, das sich in Raum und Zeit fassen laesst…und letztlich ist es bloss ein Wort, das erfassen will, was sich nicht erfassen laesst. Also, vielleicht eher etwas zum erleben, und eine wunderbare Gelegenheit wieder zu entdecken, das Leben aus der Perspektive eines Kleinkindes zu sehen, dessen Bewusstsein noch nicht verfestigt ist durch all das, was man uns beigebracht hat. Dies gilt auch fuer unsere Meinung zur Wahrheit.