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Leseratten und Bücherwürmer

«Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz gilt als Leseratte», vermeldete die Sonntagszeitung am 30. Juli in einem Interview mit ihm. Das freut uns Leserinnen und Leser natürlich, aber wie es der Kanzler mit Ratten und mit Würmern hat, entzieht sich meinen Kenntnissen. Denn ebenso häufig wie als Leseratten werden ja Menschen, die gerne lesen, auch als Bücherwürmer bezeichnet.

Ratten gelten als gierig, sie fressen alles, was ihnen unter die Zähne kommt. Sind Leserinnen und Leser so? Gewiss nicht. Wir wählen unsere Lektüre doch aus. Und Bücherwürmer, die auch Brotkäfer heissen, ernähren sich nicht nur von trockenen Nahrungsmitteln, sondern ebenso von Büchern, Papier, Pappe und Bildern, lauter Dingen also, denen unsere Sympathie gilt und die wir uns zwingend unbeschadet wünschen.

Ich habe es schon immer gehasst, als Leseratte oder Bücherwurm bezeichnet zu werden, denn Ratten und Würmer finde ich eher eklig. Klar, ich weiss, Würmer lockern die Erde auf und liefern Dünger, sie sind aber leider blind, schlimmer noch, sie haben keine Augen. Ratten verfügen über einen ausgeprägten Geruchssinn und können sogar Minen erschnüffeln. Zudem werden sie in der Medizin zu Forschungszwecken eingesetzt und wenn ich das schreibe, tun mir die armen Viecher fast schon leid, seien sie doch besonders intelligent und ihren Artgenossen gegenüber sehr sozial. Dennoch, Ratten haben einen schlechten Ruf, gelten sie doch als Überträgerinnen von Krankheiten, als Todesbotinnen und nimmersatte Wesen in mancherlei Hinsicht! Was das mit Lesenden gemein haben soll, ist mir schleierhaft.

Als ich ein Kind war, habe ich oft meiner Katze vorgelesen. Sie hat stets aufmerksam zugehört, mindestens so lange, bis sie einschlief, und ich war davon überzeugt, dass sie eines Tages das Lesen kapieren und selber Bücher lesen würde. Wenn mich jemand Leseratte nannte, habe ich gesagt:
«Ich bin aber eine Lesekatze.»

«Was soll denn das sein, eine Lesekatze?», haben die Erwachsenen gefragt. «Hast du denn schon mal eine Katze gesehen, die lesen kann?» «Nein, habe ich nicht, aber was nicht ist, kann noch werden. Und hast du denn schon mal eine Ratte gesehen, die lesen kann? Oder einen Wurm?»

Wie auch immer, meine Lieblingskatze ist gestorben, bevor sie lesen konnte, aber sie war eine äusserst begabte Zuhörerin und hat stets an den richtigen Stellen geschnurrt, wenn ich ihr Märchen, dann Heidi und später Hanny und Nanny vorgelesen habe. A propos vorlesen und zuhören: Wann haben Sie das letzte Mal jemandem vorgelesen? Einem müden Kind, das ohne Geschichte nicht einschlafen konnte? Einem Erwachsenen, der zu müde oder vielleicht gar zu krank war, um selber zu lesen oder im guten Fall es stets geniesst, wenn ihm oder ihr vorgelesen wird? Und wann ist Ihnen letztmals vorgelesen worden? Denn man kann sich auch ohne Grund vorlesen, einfach, weil es Freude macht. Es gibt wunderbare Briefwechsel, die sich zum gegenseitigen Vorlesen eignen. Und manchmal tauschen Rollen wie von selbst, wird man von der Vorleserin zur Zuhörerin.

Ist mir neulich mit meinem Enkelkind passiert. Jahrelang habe ich dem Kind vorgelesen, wenn wir uns sahen. Und jetzt liest das Kind mir vor, treffen wir uns. Voller Begeisterung, mit wechselnder Stimmlage und Intonation, wenn verschiedene Personen sprechen. Und immer wieder der Blick zu mir und darin die Frage: Hörst du mir zu? Kannst du mir folgen? Letzte Frage war gar nicht immer mit ja zu beantworten. Denn das Kind liest mir Harry Potter vor, Literatur, die mich bislang nicht interessierte. Aber man tut ja vieles für die Enkel. Also habe ich mit der Lektüre begonnen und zwei Bände gelesen, damit ich mitreden kann. Nur, das Kind ist bereits bei Band sechs von insgesamt sieben angelangt, das schaffe ich nie, aber egal, ich werde wieder aufmerksam zuhören beim nächsten Treffen.

Und ja, ein wenig vermisse ich das frühere, abendliche Ritual: Das Kind lag im Bett und ich las so lange vor, bis es einschlief, was meist länger dauerte als früher mit meiner Katze. Und klar, ich freue mich, dass das Kind so gerne liest und es auch sehr gut kann. Was vielleicht daran liegt, dass es in Gesellschaft von Leselöwen und Leseeulen aufgewachsen ist, zwei Buchreihen, die Kinder ans Lesen heranführen. Und einige unter ihnen werden dann zu passionierten Leserinnen und Lesern, Ratten und Würmer aber bleiben aussen vor.

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