StartseiteMagazinGesellschaftGescheit, mutig und mitfühlend

Gescheit, mutig und mitfühlend

Die französische Philosophin Simone Weil ist viel zu wenig bekannt. Vor achtzig Jahren ist sie gestorben, ihr Handeln und ihre Ideen sind noch immer hochaktuell.

Als Studentin organisierte sie Demonstrationen für gerechtere Löhne und bessere Lebensbedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie wusste, dass Bildung der beste Weg aus der Armut ist, und gab Kurse für die Arbeitenden in den Fabriken; nicht zuletzt wollte sie selbst erleben, wie eine Arbeiterin sich fühlt und liess sich als Akkordarbeiterin in verschiedenen Industriefabriken anstellen, später auch auf einem Bauernhof. Sie engagierte sich im Spanischen Bürgerkrieg 1936 und zuletzt in der Résistance gegen die Okkupation Frankreichs durch die Nationalsozialisten. Die Ideale, von denen die kommunistischen Führer sprachen, lebte sie selbst, ohne je Mitglied einer kommunistischen Partei zu sein.


«Die Wirklichkeit des Lebens besteht nicht aus Gefühl, sondern aus Aktivität.»


Simone Weil wurde 1909 in Paris geboren. Ihr Vater war Arzt und stammte aus einer jüdischen Familie in Strassburg. Ihre Mutter, ebenfalls aus einer jüdischen Familie, war in Odessa geboren, aber schon als Kind nach Belgien gekommen. Ihre Familie praktizierte den jüdischen Glauben nicht, die junge Simone wächst also nicht in den traditionellen Bräuchen auf, sondern erhält die übliche laizistische Erziehung der französischen 2. Republik. – Bis heute legt das offizielle Frankreich Wert auf ein Schulsystem, in dem es keine Religionen gibt. – Simone hat noch einen älteren Bruder, André Weil, der als einer der besten Mathematiker des 20. Jahrhunderts gilt.

Ein menschenwürdiges Leben für alle

Simone muss ein zartes Mädchen gewesen sein, anfällig für Krankheiten, und vom Pech verfolgt. So verbrühte sie sich 1936 in Katalonien mit siedendem Öl ihren linken Fuss so schwer, dass sie sich von ihrem Einsatz im Spanischen Bürgerkrieg zurückziehen musste. Bei ihren vielen praktischen Engagements, um die soziale und materielle Benachteiligung der Arbeiterschaft aufzudecken und zu verbessern, schonte sie sich nie und wurde deshalb zuweilen wegen Erschöpfung krank.

Simone Weil rechts, ihr Bruder André links, dazwischen ihre Eltern Bernard und Saloméa. 1916 / commons.wikimedia.org

Lernen und Nachdenken, das konnte sie stets aufs Beste. Sie bestand die Abschlussprüfung (Baccalauréat) in Latein und Griechisch schon mit 15, in Philosophie mit 16. Es war damals möglich, die Prüfung abzulegen, ungeachtet, ob die üblichen Schuljahre absolviert waren. Dann studiert Simone an der Ecole Normale Supérieure und schliesst diese 1931 mit dem Examen als Gymnasiallehrerin ab. Schon als Studentin kann sie ihre ersten philosophischen Überlegungen in einer Zeitschrift veröffentlichen.


«Die Liebe ist der Blick der Seele»


Von nun an übt sie fast ununterbrochen drei Tätigkeiten gleichzeitig aus: Lehrerin, Philosophin (vorwiegend schreibend) und engagierte Aktivistin. Vor allem durch ihre Aufsätze, in denen sie zu gesellschaftlichen und politischen Fragen Stellung bezieht, zieht sie die Aufmerksamkeit linker Intellektueller in Frankreich auf sich. Simone Weil schreibt nie Propaganda. «Ihre Berichte bestechen durch die sprachliche Klarheit und die eindringliche Kraft ihrer Analyse», schreibt Reiner Wimmer über sie. Diese Klarheit des Denkens und ihre Ernsthaftigkeit zeigen sich in ihrer ganzen Hinterlassenschaft, auch in ihren Briefen. – Es war eine Zeit, als Philosophinnen, Literaten und Wissenschaftlerinnen durch Briefe in Verbindung blieben.

Klarer Blick und unermüdlicher persönlicher Einsatz

Wo immer möglich, verschaffte sich Simone Weil ein eigenes Bild der politischen Lage. So reiste sie schon 1932 nach Deutschland. Als andere vor der aufkommenden Gefahr des Nationalsozialismus die Augen verschlossen, erkannte Simone Weil, welche Brisanz in der sich abzeichnenden Entwicklung lag, und schrieb darüber in Gewerkschaftszeitungen.

Simone Weil 1921 in Baden-Baden / commons.wikimedia.org

Die politische Entwicklung in Frankreich muss Simone Weil mit einer gewissen Genugtuung erfüllt haben: Bei den Wahlen 1936 siegt das linke Bündnis der Sozialisten und Kommunisten, der front populaire, und Léon Blum wird Regierungschef. Nun werden wichtige Entscheidungen verwirklicht, für die sie sich stark gemacht hatte: die 40-Stunden-Woche, bezahlte Ferien, Lohnerhöhungen, Mitbestimmung im Betrieb u.a. Zumindest für kurze Zeit scheint der Kampf, in dem sie sich engagiert hat, erfolgreich zu sein.

Mystische Erfahrungen

1937 reist Simone Weil nach Italien und ist begeistert von den Kunstwerken aus Antike und Mittelalter. Sie besucht auch Assisi, denn in Franziskus sieht sie zu Recht einen Geistesverwandten und erlebt dort eine Art mystischer Erweckung. Im Jahre darauf verbringt sie zehn Tage in der Benediktinerabtei von Solesmes, bis heute bekannt für die Pflege des Gregorianischen Gesangs. «Ich hatte bohrende Kopfschmerzen, und da erlaubte mir die äusserste Anstrengung der Aufmerksamkeit, in der unerhörten Schönheit der Gesänge und Worte eine reine und vollkommene Freude zu finden», schreibt sie einem befreundeten Pater und berichtet dann, dass sie in besonders starken Schmerzattacken ein Gedicht mit dem Titel Liebe zitiere: «Ich glaubte, nur ein schönes Gedicht zu sprechen, aber dieses Sprechen hatte die Kraft eines Gebets. Einmal, während ich es sprach, ist Christus selbst herniedergestiegen und hat mich ergriffen.»


«Gott ähneln, aber dem gekreuzigten Gott.»
Simone Weil in ihrem Buch Schwerkraft und Gnade.


Diese mystische Erfahrung öffnet einen weiteren Aspekt in der Persönlichkeit dieser aussergewöhnlichen Frau. Auch in den kommenden Jahren lässt ihr politisches und gesellschaftliches Engagement nicht nach. Es gelingt ihr, nach der deutschen Besetzung 1940 ihre Eltern über Marseille nach New York zu bringen. Sie selbst fährt weiter nach London, um  sich der Résistance anzuschliessen. Vor 80 Jahren, im August 1943, ist sie gestorben, an Tuberkulose erkrankt und durch Überarbeitung erschöpft.


«Die Wahrheit lieben bedeutet, die Leere zu ertragen und in der Folge den Tod anzunehmen. Die Wahrheit steht auf der Seite des Todes. Ohne ein Sich-Losreißen kann man die Wahrheit nicht mit ganzer Seele lieben.»


Die Werke von Simone Weil befinden sich in Fachbibliotheken.
Einen guten Überblick über ihr Leben, ihre Philosophie und Spiritualität gibt:
Reiner Wimmer, Simone Weil interkulturell gelesen. Interkulturelle Bibliothek Band 69.
Verlag Traugott Bautz. ISBN 978-3-88309-243-0 (broschiert und als E-Book hier erhältlich)

Antiquarisch verfügbar ist:
Simone Weil und (Hrsg. Friedhelm Kemp), Zeugnis für das Gute: Traktate, Briefe, Aufzeichnungen. dtv-Taschenbuch ISBN 978-3-42311-289-5

Radioessay im Deutschlandfunk Kultur: Die Philosophin Simone Weil. Eine Denkerin der radikalen Hoffnung.

Hier ein tiefgründiger Aufsatz des Philospohen Reiner Wimmer

Philosophie – Simone Weil: Ist Ewigkeit erfahrbar? (arte-tv, zweisprachig)

Titelbild: Streetart Bild der Philosophin Simone Weil in Berlin Kreuzberg (2019) / commons.wikimedia.org

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1 Kommentar

  1. Es stimmt, die französische Philosophin Simone Weil, wie auch die 1910 in Genf geborene Jeanne Hersch, beide kluge und herausragende Frauen des 20. Jahrhundert, werden heutzutage selten in der Öffentlichkeit diskutiert. Sie sind weibliche Vorbilder, von denen es immer noch viel zuwenige gibt. Ihre Werke zeigen uns die Welt aus den Anfängen der Frauenemanzipation im Kontext mit diesem unglaublich spannenden Jahrhundert.
    Ihr Beitrag trägt hoffentlich dazu bei, dass einige Leserinnen und Leser die Bücher der «alten» Philosophinnen wieder in die Hand nehmen. Danke für den Anstoss.

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