Alice Rohrwacher erzählt in «La Chimera» Kurz- und Kürzest-Geschichten, welche sich nicht zu einer eindeutigen Botschaft bündeln lassen, sondern uns einladen, damit unsern persönlichen Film zu erfinden. Ein Film in magischen Phantasmagorien und kritischem Realismus.
Wenn wir den Himmel mit seinen Wolken betrachten, erkennen wir gelegentlich Wolken, die
sich zu einer Figur vereinen, oder gelegentlich Wolken, die eine Figur auflösen – wie bei
einer Implosion sich Teile in eine Form verdichten, bei einer Explosion die Form sich in Teile
auflöst. Bei Filmen sind wir uns gewohnt, dass sie sich gegen Schluss zu eindeutigen
Aussagen verdichten. Wenn die Teile sich jedoch verflüchtigen, verunsichert uns das, und wir versuchen, eigene Schlüsse, Antworten, Botschaften für unseren eigenen Film zu finden. «La Chimera» (laut Wörterbuch: mythologisches Mischwesen, Hirngespinst, Illusion) von Alice Rohrwacher ist ein Film der zweiten Art.
Feiernde Zirkusleute und Vagabunden
Einstieg
Jeder jagt seinen Hirngespinsten und Visionen nach, doch keiner mag sie ganz erfassen. Für die einen ist es der Traum vom leicht verdienten Geld, für die anderen die Suche nach der vollkommenen Liebe. Bei der Rückkehr in seine kleine italienische Stadt am Meer trifft Arthur (Josh O’Connor), von England oder Irland kommend, seine befreundeten Grabräuber wieder: Diebe von etruskischen Kunstgegenständen und archäologischen Wunderwerken. Er hat eine Gabe, die er in den Dienst der Bande stellt. Er spürt die Leere der Erde, in welcher die Überreste vergangener Welten verborgen sind. Aber auch die Leere, welche die Erinnerung an seine verlorene Liebe zu Beniamina (Gan Piero Capretto) hinterlässt. Auf seiner abenteuerlichen Reise zwischen Lebenden und Toten, Gemeinschaft und Einsamkeit
entdeckt der Träumer und Suchende immer neue ineinander verwobene Schicksale, die sein Leben auf Trab halten. Als Heimkehrer wohnt er bei den Armen, bis er von der eleganten und geheimnisvollen Gräfin Flora (Isabelle Rossellini) herzlich empfangen wird, die mit einer Gruppe Frauen, darunter Italia (Carla Duarte), in einem Palast lebt.
Italia und Arthur
Anmerkungen der Regisseurin Alice Rohrwacher
In meiner Heimat hörte man oft Geschichten von verborgenen Schätzen, von heimlichen
Ausgrabungen und mysteriösen Abenteuern. Man brauchte nur in eine Bar zu gehen, wo
jemand erzählt, wie er mit seinem Traktor auf ein Grab aus der Zeit der Villanova-Kultur
gestossen ist. Oder von jemand anderem, der nachts eine goldene Halskette ausgegraben
hatte, die so lang war, dass er sein Haus damit umwickeln konnte. Und von anderen hörte
ich, die ihr Glück mit dem Verkauf einer in ihrem Keller gefundenen etruskischen Vase in die Schweiz gemacht hatten. Diese Nähe zwischen Tod und Leben, die mich während meiner Kindheit faszinierte, hat meinen Blick als Filmemacherin geprägt. Deshalb habe ich
beschlossen, diesen Film zu drehen, der von der facettenreichen Beziehung zwischen
diesen zwei Welten erzählt und, nach «Le Meraviglie» und «Lazzaro Felice», wahrscheinlich das letzte Stück meines Triptychons ist, das sich mit einer Frage befasst, die mir am Herzen liegt: Wie soll man mit der Vergangenheit umgehen?
Arme Grabräuber
Die Protagonisten des Films sind eine Bande von Grabräubern, sogenannten Tombaroli.
Dies sind Schänder etruskischer Gräber, welche die gefundenen Antiquitäten an
einheimische Hehler verkaufen. Wir sind in den 1980er-Jahren. Diejenigen, die sich dazu
entschliessen, das zu werden und so die Grenze zwischen dem Heiligen und dem Profanen
überschreiten, tun dies, um in der Vergangenheit zu graben und in der Gegenwart ein
anderes Leben zu finden. Sie fühlen sich nicht als Teil der Vergangenheit, denn sie haben
nicht die gleiche Kindheit erlebt wie ihre Eltern. Vielmehr dringen sie in die geheimen Orte
ein, die die Etrusker hinterlassen haben.
Kunsthändler oder kleine Rädchen im Getriebe?
Mein Film befasst sich mit einem wichtigen Thema im Italien des 20. Jahrhunderts, das auch andere Länder betrifft: dem Markt für antike und archäologische Kunstwerke und dem
illegalen Handel damit. Die Menschen, die vom Bedürfnis getrieben waren, Geld zu
verdienen, ohne Hierarchien und für «Chefs» zu arbeiten, hatten das Gefühl, dass ihre
Funde ihnen als Bewohner ihres Landes gehören. Doch sind sie in Wirklichkeit nur kleine
Rädchen in einem grossen System, dem internationalen Kunstmarkt. Sie denken, sie hätten
die Entscheidungsgewalt, sind aber nur Schachfiguren, die anderen Interessen dienen, sind
Glieder eines Handels, der in Italien umfangreicher war als der Drogenhandel, viel profitabler und weniger riskant. Mit diesem Film wollte ich einerseits die sozialen Beweggründe schildern, welche diese Männer dazu brachte, nachts zu plündern, um tagsüber nicht arbeiten zu müssen, und andererseits die Dynamik einer Gangsterbande beleuchten, die sich innerhalb eines Marktes bewegte, der ihren Drang nach Unabhängigkeit als neue Form der Sklaverei nutzte.
Arthur, der Fremde
Die Hauptfigur in «La Chimera» ist einer dieser Plünderer: Arthur, ein Fremder. Er lebt an der Stadtmauer, weder drinnen noch draussen, ist nicht sehr gesprächig und hat einen speziellen Charakter: Er gehört weder zum Territorium noch wirklich zur Bande. Ihm gehört nur die Erinnerung an seine vergangene Liebe Beniamina. Er strebt nicht nach Geld oder
Abenteuern, sondern nach etwas anderem, das im Jenseits geblieben ist. Wie Orpheus auf
der Suche nach Eurydike spürt er, dass er beim Graben das findet, was er verloren hat, die
verschwundene Liebe. Ich wollte über Arthurs innere Reise berichten, die wie ein Pendel
zwischen Tag und Nacht oszilliert. Auf seinem Weg wird er von zwei Frauen begleitet:
Beniamina, die eine ferne Erinnerung bleibt, und Italia, eine fröhliche, lebenslustige Frau.
Grabräuber bei der Arbeit
Visuelle Gestaltung
In «La Chimera» habe ich versucht, wie in einem orientalischen Wandteppich verschiedenste Fäden zu verweben, mit dem Thema des Films zu spielen: durch Verlangsamung oder Beschleunigung, Gesang oder Proklamationen. Der Film pendelt zwischen eher komischen Sequenzen, in die die Erlebnisse der Grabräuber eingebettet sind, und dramatischeren Momenten, die sich auf Arthur und seine Vergangenheit beziehen. Auch die Landschaft ist ein eigenständiger Protagonist des Films. Wir reisten entlang der Küste des Tyrrhenischen Meeres, zwischen Tarquinia und Cerveteri, ins Landesinnere, wanderten auf verlorenen Pfaden zu verlassenen Höhlen und archäologischen Stätten, betraten den alten Flora-Palast, gingen durch die engen Gassen der historischen Zentren, bis hin zu den neuen Stadtvierteln der 1970er-Jahre und den Stränden in der Nähe des Kraftwerks bei Civitavecchia. Der Film beginnt im Winterlicht und wird dann von der Sommersonne der Maremma überstrahlt: Eine Reise durch die Jahreszeiten und die Zeitalter der Zivilisationen, um das komplexe, manchmal dramatische, manchmal fröhliche Fresko unserer Vergangenheit zu zeigen.
Mein Schluss – vielleicht ein Anfang
Meinen persönlichen Zugang zu diesem wunderschönen, wenn auch verwirrenden,
unterhaltsamen, wenn auch geheimnisvollen Film fand ich anlässlich eines Konzertes mit
moderner Musik der Komponistinnen Ruth Schonthal, Vivienne Olive, Sofia Gubaidulina und
Lera Auerbach. Bei ihnen bündeln sich die Themen und Motive nicht auf eine eindeutige
Aussage, eine abschliessende Botschaft, sondern führen uns zu einem reichen und bunten,
turbulenten und wilden Nebeneinander musikalischer Themen und Motive: auf ein
unbekanntes, fremdes, uns herausforderndes und überforderndes Offen-Sein. Alice
Rohrwacher leistet dies, zusammen mit dem Sound Designer Xavier Lavosel, der
Kamerafrau Hélène Louvard, dem übrigen Team und den exzellenten Darstellerinnen und
Darstellern, hervorragend.
Regie: Alice Rohrwacher, Produktion: 2023, Länge: 134 min, Verleih: Filmcoopi