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Von Krieg, Flucht und Neubeginn

Nach einer Reise durch den Westbalkan beschloss die Berner Schauspielerin Annemarie Morgenegg (64) ein Buch über und mit Menschen aus Ex-Jugoslawien zu schreiben, die heute in der Schweiz leben. Entstanden sind 21 Porträts von Männern und Frauen, über deren Erlebnisse im Krieg, auf der Flucht und während der Integration.

Der Tod von Staatsführer Tito (1980), die Kriege in Slowenien, Kroatien, Bosnien, im Kosovo liegen weit zurück. Heute dominieren Kriegsberichte aus der Gaza, der Ukraine, Aserbeidschan. Und doch erleben die von Gewalt, Terror und Vertreibung betroffenen Menschen immer wieder dasselbe: Wenn sie nicht getötet oder verletzt werden, begeben sie sich verängstigt, hilflos, ohnmächtig auf die Flucht, stranden in einer neuen Provinz, in einem neuen Land und beginnen von Null. Hin- und hergerissen zwischen der alten und der neuen Welt versuchen sie, Fuss zu fassen, eine Arbeit zu finden, sich zu integrieren.

Nach Titos Tod brach der Vielvölkerstaat Jugoslawien auseinander.

Dies wiederholte sich auch in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts mehrfach, als Zehntausende von Menschen vom kriegserschütterten Balkan in die Schweiz flohen. Fasziniert von der Gastfreundschaft, Offenheit und Hilfsbereitschaft der Balkanesinnen und Balkanesen hat Annemarie Morgenegg 21 Männer und Frauen gesucht und gefunden, ihnen zugehört und ihre Erlebnisse aufgeschrieben. Die Lebensgeschichten (sieben wurden unter Pseudonymen publiziert) geben Einblick in die Familienstrukturen, die Ausbildungschancen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im ehemaligen Jugoslawien. Sie erzählen von Not und Todesangst während der Flucht, von Unterstützung und Ablehnung in der Schweiz, von unterschiedlichen Mentalitäten und gemeinsamen Träumen.

Schillernd wie ein Mosaik

Mit einem guten Sensorium für die Gefühle und Zwischentöne der Porträtierten hat die Autorin deren Geschichten aufgeschrieben, leichte und schwere, lustige ebenso wie schockierende, bunte und dunkle. Die Einladung der Porträtierten «Für Dich öffne ich meine Schublade», die zum Titel des Buches wurde, ist auch das Abbild einer multi-ethnischen, aber europäischen Region, facettenreich schillernd wie ein Mosaik, leicht lesbar und unterhaltend zugleich. Die Erzählungen spiegeln die Sicht der Saisonniers, Fachleute, Kriegsflüchtlinge und ihren Nachgeborenen auf die Schweiz: kritisch, freundlich und oft überraschend.

«Als ich in die Schweiz einreiste, sah ich diese Natur, die Kühe, die tollen Strassen, dachte, puoooohhh, dieses Land ist sowas von perfekt. Schon ein bisschen klischeehaft, aber in einem positiven Sinn, wie auf den Bildern: alles war wunderbar. Ich verliess ein Land, in dem ganz vieles nicht funktionierte, und kam in ein Land, in dem alles optimal war, alles einwandfrei. Das spaltete meine Gefühle, ich fragte mich, was will ich denn hier bewirken. Hier gibt es ja nichts mehr zu verbessern», beschreibt Enis (geboren 1970) seine ersten Eindrücke.

Hart erkämpfte Karrieren

Die meisten der Porträtierten packten die Chance, machten eine Ausbildung, liessen sich umschulen und integrierten sich beruflich. Einer wurde IT-Berater, Frauen gingen in die Pflege oder in die Gastronomie, einige machten sich selbständig, wurden erfolgreiche Unternehmer, Sozialarbeiter, einer Mitarbeiter an einer Tankstelle. Gesellschaftlich-sozial aber spürten sie die Unterschiede zu den Schweizerinnen und Schweizern. «Was mich sehr beindruckte, war die Mittagszeit. Alle essen um zwölf Uhr zu Mittag. Haben sämtliche Schweizerinnen und Schweizer pünktlich Hunger? Das war einfach lustig. Oder dass man in der Schweiz nicht über seinen Lohn spricht. Seltsam fand ich auch, dass nicht alle Frauen auswärts zur Arbeit gehen», gab Vesna zu Protokoll.

Blick auf die Brücke von Mostar. Gefühle für die alte und für die neue Heimat.

Die Geflüchteten waren sich bewusst, dass sie sich integrieren müssen, wenn sie erfolgreich sein wollen. «Seit ich in der Schweiz bin, gehe ich immer an die Fasnacht, Tradition ist Tradition. Es ist interessant, gefällt mir. Die Bratwurst an der Fasnacht ist einfach perfekt, es ist die beste Bratwurst, die es gibt,» lautet die Erfahrung von Nikola. «Pünktlichkeit, Genauigkeit, Zuverlässigkeit sind wichtig. Ich bin schon mehr Schweizer als Kroate, fühle mich wie ein Schweizer, denke wie ein Schweizer. Wir sprechen Schweizerdeutsch mit den Kindern», erzählt Marco.

Der Ärger mit den Diplomen

Natürlich sprechen die Porträtierten auch die Schwierigkeiten bei der Stellensuche an, welche sie nach ihrer Ankunft erlebten: «Leider wurde mein Diplom als Ingenieur in der Schweiz nicht anerkannt, oft musste ich mir sagen lassen, ich sei zu anspruchsvoll, sogar, wenn das Niveau einer Stelle weit unter meinen Qualifikationen lag. Schliesslich bewarb ich mich auch für ganz niedrige Arbeiten, die keine Ausbildung verlangten. Doch darauf bekam ich die Antwort, ich sei überqualifiziert», bedauert Gani.

Aus fast allen Lebensgeschichten ist Dankbarkeit zu spüren, dass sie, die Geflüchteten, in der Schweiz eine Chance für einen Neubeginn erhielten. Der ersten Generation der Eingebürgerten ist allerdings auch das Gefühl einer doppelten Identität gemeinsam: «Ich bin sehr, wirklich sehr gerne Schweizer, fühle mich auch als Schweizer. Doch ich muss ehrlich sagen: Ganz tief drinnen in meinem Herzen bin ich immer noch Slowene.» Das wird wohl bis ans Lebensende so bleiben.

Annemarie Morgenegg.

Worin liegt der Wert des ungewöhnlichen, leider etwas zu knapp bebilderten Porträtbands? Blerina, eine Frau aus dem Kosovo, formuliert es so: «Dass die Leute in der Schweiz nach der Lektüre ein wenig mehr wissen, was auf dem Balkan passiert ist. Vielleicht haben sie dann weniger Vorurteile.»

Und Autorin Annemarie Morgenegg erhofft sich von ihrem Erstlingswerk, «dass das Buch hier und dort ein Herz öffnet und das Interesse weckt für einen Teil Europas, der in vielen Köpfen noch immer ein blinder Fleck ist.»

Titelbild: Zeugnisse des Kriegs: Blick vom zerstörten Snipertower auf Mostar. Alle Fotos ZVG

Informationen zum Buch:

Annemarie Morgenegg. «Für Dich öffne ich meine Schublade – Menschen aus Ex-Jugoslawien erzählen». 2023. Sage und Schreibe Verlag ISBN 978-3-9525164-8-5

Am Donnerstag, 26. Oktober 2023, findet von 19:30-21:00 Uhr auf der Heubühne «Bienzguet» in Bümpliz eine Lesung der Autorin statt.

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