«Klaräpfel. Eine Erzählung in 75 Bildern« nennt Patricia Büchel ihr Buch mit Erinnerungen an die Kindheit im katholischen Liechtenstein der 50er Jahre.
Ein kleines Mädchen wächst auf mit dem jüngeren Bruder und Maman, die französisch spricht, sowie dem Papa, der zur Arbeit muss. Zur Familie gehören noch die Grosseltern aus Genf. Das Kind wächst zweisprachig auf. Liechtenstein in den 50er Jahren ist noch weitgehend Bauernland, aber Büros, Banken und moderne Industrie halten Einzug. Und mitunter kommen über Radio Beromünster die Schrecken der Welt an den Esstisch.
Die Schriftstellerin Patricia Büchel. Foto: Eva Caflisch
Statt einer Kiste mit ihren Kinderfotos präsentiert uns die Autorin Patricia Büchel eine Sammlung kleiner Prosatexte, beschrieben aus der Optik des Kinds, nah an dessen Sprache. Dialektwörter und damals übliche Wörter wie die Pelerine, das Zügelauto, das Zvieri sind auch im Liechtensteinischen gebräuchlich, ähnlich klingend wie auf der Schweizer Seite des Rheins.
Das Schwarzpeterspiel war wie der Mohrenkopf zu jener Zeit völlig unverfänglich, aber auf den ersten dunkelhäutigen Mann in seinem Leben durfte das Kind schon damals nicht mit dem Finger zeigen. Wichtige Beobachtungen des Kinds werden erinnert, beispielsweise der verirrte Maikäfer in der Kirche während eines Rosenkranzgebets, die Aufregung, als der Sputnik am Himmel gesichtet werden kann.
«Jahrzehntelang habe ich mich als Psychologin und Autorin mit der Entwicklung und dem Lernen jüngerer Kinder auseinandergesetzt,» sagt Patricia Büchel, «nach meiner Pensionierung hatte ich dann Zeit, mich mit dem Kind, das ich war, zu beschäftigen.» Die 1948 in Vaduz geborene Psychologin hat als Wissenschaftliche Mitarbeiterin für die Bildungsdirektion des Kantons Zürich und die Eidgenössische Erziehungsdirektorenkonferenz wichtige Studien verfasst und lebt seit langem in Zürich.
Die Wahrnehmung und die Sprache möglichst nah beim Kind halten, war die Absicht beim Schreiben. So ergeben sich einfache Satzkonstruktionen, viele Mundartwörter, kindliche Denkweisen. Die Prosa wirkt zunächst wie eine ganz simple Alltagssprache. Aber diese Rückschau auf die Kindheit in 75 Prosastücken ist Literatur, ein durchkomponierter Text. Da ist kein Wort zuviel, und weil nur erzählt, aber nie interpretiert oder reflektiert wird, entsteht Atmosphäre durch das Ungesagte und beim Lesen entstehen Bilder: Schlafende Geister werden geweckt. Die Sinneseindrücke von damals wirken in dieser schlichten Sprache wie zu einem Konzentrat eingedampft, zwar gibt es Wiederholungen, die der Sache dienen, aber geschwätzig oder sentimental sind diese impressionistischen Sprachbilder nie.
Jede Kindheit hat Abgründe, dunkle Ecken, wo alles verborgen bleibt und verdrängt wird, bis es im höheren Alter unvermittelt im Bewusstsein auftaucht: Der Spitalaufenthalt über Nacht ohne Maman, der Exhibitionist im Gebüsch , die Nonne mit dem schmerzenden Lineal, der übergriffige Grossvater und der Samichlaus mit dem Sack für böse Kinder.
Aber das Kind hat auch viele Glücksmomente erlebt: Bevor die Eltern das frischgewaschene Leintuch zusammenfalten, darf das kleine Mädchen in diese Hängematte und wird gewiegt, da ist auch das zweite Stück Himbeerroulade in Tantes Küche, oder Mémés sichere Hilfe beim ersten Schwimmversuch im Genfersee.
Schwieriger ist der Umgang mit den strikten Regeln der Kirche: die Ängste, eine Todsünde beichten zu müssen, oder gar zu sterben, wenn man sie für sich behält. Und es bleiben viele Fragen, ohne Antwort, weil sie nicht gestellt werden durften.
Irgendwann wird aus dem Kind ein Mädchen, es hat unreine Haut, dafür gute Noten in der Schule und eine kleine Schwester bekommen, die viel Pflege braucht. Der letzte Text Die Kirschbäume ist länger als die anderen 74. Das Mädchen ist ein Teenager, fühlt sich von niemandem verstanden oder gar geliebt und läuft von zuhause weg. In der Allee mit den Kirschbäumen besinnt es sich und findet am Ende in Mutters Armen Trost.
Klaräpfel sind übrigens jene hellgrünen Sommeräpfel, die frisch vom Baum herrlich schmecken, aber schon wenige Tage später mehlig werden und nur noch als Kompott taugen. Damals eine gewöhnliche Frucht, heute kaum mehr zu finden.
Klaräpfel ist indessen ein ungewöhnliches Buch, und erst noch eines der schönsten in diesem Herbst: Zu den geschriebenen Bildern hat Helena Becker, Papierschnittkünstlerin und Werklehrerin, Scherenschnitte gestaltet. Das in der Edition Eupalinos erschienene kleine Buch – grüner Leineneinband, orange Vorsatzblätter und oranges Lesebändchen – nimmt man gern zur Hand.
Zwar erzählt Patricia Büchel ihre ureigene Kindheit, aber viele ihrer Erinnerungen teilt sie mit uns, die in den 50er und Anfang der 60er Jahren Buben und Mädchen waren. Einer meiner ehemaligen Schulkollegen fand nach kurzem Lesen und Blättern, diese Klaräpfel seien das ideale Geschenk für seine Enkelin, die von ihm immer wieder wissen will, wie es damals war.
Titelbild: Birke (Ausschnitt) © Helena Becker. 2023
Patricia Büchel: Klaräpfel. Eine Erzählung in 75 Bildern. 144 Seiten. Mit 16 Papierschnitten von Helena Becker. Edition Eupalinos, Schaan 2023. ISBN 978-3-907-452-01-1
Im Literaturhaus Liechtenstein, Schaan, sind Helena Beckers Papierschnitte bis zum Jahresende ausgestellt.
«Klaräpfel» aus der Edition Eupalinos wurde in Liechtenstein als schönstes Buch des Jahres 2023 ausgezeichnet.