Inspiriert von einer wahren Geschichte eines Vorfalls in Calais, der zum Selbstmord einer ganzen Familie führte, gastiert der bekannte Regisseur Milo Rau mit dem Stück «Familie» als Zürcher Premiere in der Schiffbau-Halle des Zürcher Schauspielhaus.
In «Familie», 2020 in Milo Raus Genter Theater uraufgeführt, thematisiert der Regisseur den Selbstmord der Familie Demeester, die sich 2007 in Calais nahe der belgischen Grenze gemeinsam erhängte – scheinbar grundlos. Die Familie hinterliess nichts als einen Zettel mit dem kurzen Satz: «Wir haben`s vermasselt, sorry».
Der letzte Abend vor dem Selbstmord
Auf der Bühne steht das Schauspielerpaar An Miller und Filip Peeters mit den eigenen Töchtern Leonce und Louisa als Familie, die die realen Bruchstücke zu einer eigenen Erzählung gestaltet. Gespielt wird der letzte Abend vor dem Kollektivselbstmord. Wir sehen die Mitglieder der Familie beim Kochen, Essen, Telefonieren, Duschen. Sie erzählen, was sie am Leben mögen, die Töchter lernen englische Wörter, der Vater kocht, die Mutter telefoniert mit ihren Eltern, später sitzen sie gemeinsam beim Abendessen und tauschen Familienerlebnisse aus, danach schauen sie sich Kindheitsvideos der Töchter an. Nichts deutet auf den bevorstehenden Suizid hin.
Kurz vor der Tragödie: Die Mutter (An Miller) und die beiden Töchter Leonce und Louisa auf der Leinwand.
Auf der Bühne ist eine zum Zuschauerraum hin geöffnete Wohnung mit Küche, Esszimmer, Bad und Wohnstube zu sehen. Darüber ist eine Leinwand befestigt, auf die Liveaufnahmen des Familienlebens projiziert werden. Präsentiert wird die alltägliche Intimität einer gewöhnlichen Familie. Auch einer der beiden Hunde der Miller-Peeters ist dabei, ein kuschliger Schosshund. Die Tochter Louisa führt durch den Abend, erzählt auf einem Stuhl sitzend vor der Wohnung von den Eltern, die ihren unartigen Töchtern mit dem Internat gedroht hätten, bis sie selbst dorthin wollten, von Selbstmordgedanken, davon, was sie lieben, zum Beispiel Filme auf dem Sofa schauen, während es draussen regnet.
Schwer fassbare Realität wird gespielt
Wir erleben einen Abend wie in vielen Familien – nur dass es der letzte ist. Die Familie räumt die Wohnung leer, stapelt alles vor der Haustüre auf. Die Eltern montieren die Fallstricke, die Töchter begehren ein letztes Mal auf, bis Louisa ein Machtwort spricht. Den Zuschauern bleibt der Moment des Erhängens nicht erspart. Kraftvoll und kompromisslos wird schwer fassbare Realität gespielt. Der Moment quält und klagt an. Milo Rau bietet einmal mehr eine kompromisslose Reflexion über die heutige Lebenssituation, die schwer zu ertragen ist.
Ein letztes Aufbäumen: Die Mutter beim Versuch, den Widerstand der Töchter zu brechen. Fotos: Michiel Devijer
Grosses Lob verdient die Schauspielerfamilie Miller-Peeters mit den Töchtern Leonce und Louisa, die das Unverständliche so eindrucksvoll und überzeugend spielt. Seziergenau veranschaulicht sie den Alltag einer Familie, die aus mysteriösen Gründen im kollektiven Selbstmord endet. Das Warum bleibt auch in Raus Inszenierung unbeantwortet.