StartseiteMagazinKolumnenNarzissmus, Macht und Ohnmacht

Narzissmus, Macht und Ohnmacht

Verwirklicht sich Selbstliebe stets auf Kosten von andern? Das wollte ich von der Psychoanalytikerin Jeannette Fischer und der ausgebildeten Sängerin Claudia Adrario de Roche erfahren. Nein, antworteten beide. Narzissmus und übergriffige Macht kämen oft Hand in Hand daher, aber nicht zwingend.

Die Zürcher Psychoanalytikerin Jeannette Fischer hat in Athen und Tübingen vergleichende Religionswissenschaften studiert und dann zur freudschen Psychoanalyse in Zürich gewechselt, wo sie seit dreissig Jahren in eigener Praxis arbeitet. «Wir werden nicht als Narzissten, Narzisstinnen geboren», sagt sie. «Narzissmus hat auch eine Abwehrfunktion». Und dieser Schutz könne uns vor Einsamkeit und Verlorenheit retten. Aber wer bleibt warum öfters im «narzisstischen Strudel» stecken?

Nun, für die einen ist der Narzissmus ein pathologisches Phänomen. Andere betrachteten das Verliebtsein in sich selbst als Antrieb für Kreativität und Selbstwert. Jedenfalls wollen viele ihren Narzissmus einfach etwas zähmen. Jeannette Fischer plädiert dafür, die eigene Persönlichkeit selbstbewusst zu entfalten und die Differenz zwischen Menschen anzuerkennen. Das ermögliche eine Demokratie, in der die Vielfalt das eigentliche kreative Moment des Zusammenlebens sei, das auch Freiheit für alle bedeute.

Claudia Adrario de Roche hat Archäologie und Gesang studiert. Sie präsidiert «Soup&Chill», eine Wärmestube für sozial Benachteiligte in Basel. Bei Narzissmus denke sie zuerst an Narzissen. Gleich hinter ihrem Dorf im Jura gehe es durch eine kleine Schlucht hinauf auf das nächsthöhere Geländeplateau, von wo die Strasse nach Roche d’Or abbiege. Diese Schlucht sei voll von kleinen, wilden Narzissen. Im Februar bohrten sie jeweils ihre Blätter durch den Schnee und strahlten dann bis Ostern. Jedes Jahr wieder, das sei «zum Jubeln schön». Das Thema Narzissmus und (Ohn-)Macht beschäftige sie allerdings sehr. «Wir alle fragen uns derzeit wohl mehr denn je: was sind das für Menschen, die viel Macht ausüben? Welche Gefühle, Werte und Ziele haben sie?»

Am meisten bekümmert Claudia Adrario «die Entmenschlichung der Gesellschaft». Die Moral werde in einer Welt zum Hobby, in der Menschen entbehrlich seien. Davor habe schon der 2001 verstorbene Dramatiker Thomas Brasch gewarnt. Und das Wesentliche erzähle eigentlich schon die Sage von Narziss. Ein Mensch, der nur sich und sein eigenes Spiegelbild liebe, verliere das Gefühl für Mitmenschen. Sie interessierten ihn nicht. Er könne sie weder lieben, noch sich mit ihnen vertiefend austauschen. Ein ICH ohne DU funktioniere nicht. Der reine Narziss sei letztlich nicht lebensfähig. Und die Reihe der narzisstischen Staatenlenker unserer Tage sei lang. Das mache ihr «grosse Angst». Doch jeder Mensch habe narzisstische Anteile. Ohne Selbstachtung und sogar Selbstliebe habe ein Mensch keine Stabilität, sich nach Aussen und andern Menschen zuzuwenden. Es müsse aber eine Balance zwischen Eigenliebe und Liebe zum Nächsten geben.

Wie gut das gelingt, hängt auch von gesellschaftlichen Bedingungen ab. Heute gelangen oft eh schon Privilegierte, die wenig Rücksicht auf andere nehmen, zu viel Macht. Sucht nach Anerkennung, Einfluss und noch mehr Besitz treiben voran. Und zuweilen applaudieren «ohnmächtig» Abhängige, die sich, knapp gehalten, ums Existenzminimum bewegen.

Wichtig ist daher gewiss ein sensibler Umgang mit eigenen narzisstischen Anteilen. Hinzu kommt hoffentlich die Bereitschaft, Machtmonopole zu demokratisieren, sich mit Benachteiligten zu solidarisieren und soziale Sicherheiten zu garantieren. Das sieht ja auch unsere Verfassung so vor.

Titelbild: Ueli Mäder © Photo Christian Jaeggi

Die jeweils die Gespräche umrahmende Musik steuerte Ende Januar das Blockflötenensemble unter der Leitung von Eva Wehrli bei. Jeder Talk zur Friedenspolitik kann nachgehört werden.

Hier geht es direkt zum Projekt Soup&Chill

Amerika verstehen. Darüber diskutiert Ueli Mäder am Donnerstag, 29. Februar 2024 mit den früheren US-Korrespondenten Alan Cassidy (NZZ am Sonntag, vormals Tages-Anzeiger) und Casper Selg (ehemals Echo der Zeit): Um 19 Uhr im Cheesmeyer-Bistro Sissach. Auch bei diesem Thema geht es um Narzissmus und Macht .

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1 Kommentar

  1. Vieles von dem was „typisch Menschlich“ ist wird zu schnell als „krankhaft“ umgebogen! Das ist beim Narzisstischsten wie beim Wehleidigen so. Dabei leiden beide an der Differenz zwischen dem wie sie Innerlich idealerweise gerne wären und alles gerne hätten – was ihnen „die Welt“ aber scheinbar nicht bietet. Der eine „will“ diese Differenz nicht und erstickt sein leiden mit IchundnurIch- der andere signalisiert sein Leiden an der Differenz durch Wehleidigkeit und appelliert an die beachtende Sorge durch andere um seine Differenz zur realen Welt zu mildern. Beide werden weiter leiden, weil sich ihr und unser aller mehr oder weniger „Unbehagen in der Kultur“ (Freud) letztlich nie ganz stillen und glätten lässt.

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