Roman Haubenstock-Ramatis «Amerika»-Oper nach Franz Kafka, die jetzt am Zürcher Opernhaus eine bejubelte Wiederauferstehung erlebt, ist mit Live-Orchester und elektronischen Surround-Klangeffekten sowie Bild- und Lichtreizen aller Art ein verqueres Multimedia-Spektakel. Irritierend, faszinierend, überwältigend.
Kafkas Romanfragment erzählt die Geschichte des 16-jährigen Karl Rossmann, der von seinen Eltern aufgrund eines Zwischenfalls nach Amerika verbannt wird. Dort widerfährt ihm vielerlei Ungemach: Als erstes verliert er Koffer und Regenschirm. Auf der Suche nach seinen Halbseligkeiten trifft er auf den Heizer, mit dessen Geschick er sich spontan solidarisiert. Kurz darauf begegnet er seinem Onkel, der ihn aufnimmt, aber bald wieder grundlos verstösst.
Er lernt exzentrische Frauen kennen. Erst die brutale Klara. Dann die ständig nörgelnde Sängerin Brunelda. Später die unglückliche Therese und die fürsorgliche Oberköchin… Auch ein ewiger Student und zwei zwielichtige Landstreicher kreuzen seinen Weg. Er wird Liftboy, wegen einer Lappalie aber bald wieder entlassen und heuert schliesslich beim «Grossen Naturtheater von Oklahoma» an, wo «jeder willkommen ist». Hier bricht der Plot ab – Lost in America, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten…
«Naturtheater» im Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Eine seltsame Parallele verbindet zudem Kafkas Roman, dessen ursprünglicher Titel «Der Verschollene» war, mit dem polnisch-jüdischen Komponisten Haubenstock-Ramati, mit dessen Leben ebenso wie mit dessen Oper. 1919 in Krakau geboren, führte ihn ein kriegsbedingt unstetes Leben nach Tel Aviv und schliesslich nach Wien, wo er 1994 starb. Auch seine «Amerika»-Oper, ein Meilenstein in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, scheint fast verschollen. Nach ihrer skandalträchtigen Uraufführung 1966 in Berlin kommt sie jetzt erst zum vierten Mal auf die Bühne.
Ab und zu spielt Licht die erste Geige – oder gibt den Ton an.
Dass sich die Zürcher Oper an dieses äusserst aufwändige Werk wagen darf, verdankt sich dem elaborierten technischen Equipment des Hauses. Und der unfreiwilligen Pandemiepause, dank der man sich für die Vorbereitung der eigentlich für 2021 angesetzten Produktion gehörig Zeit nehmen konnte. Dem Komponisten schwebte nämlich ein im Wortsinn um-fassendes Gesamtkunstwerk vor: Oper, Melodram, Schauspiel, Pantomime, Projektionen. So verlangt er neben dem Live-Klangkörper im Graben zwei weitere, zuvor aufgenommene Orchester, dazu Sprechchöre und Geräuschkulissen ab Konserve, alles nach ausgeklügeltem Raster zugespielt und aus 64 im Haus verteilten Lautsprechern erklingend.
Zwischen Realität und Fiktion
Dem Dirigenten Gabriel Feltz und dem Klangregisseur Oleg Surgutschow kommt neben der künstlerischen eine enorm fordernde Koordinationsaufgabe zu, die sie souverän bewältigen. Gleiches gilt für Licht (Elfried Roller) und Videos (Robi Voigt), die die Grenzen zwischen Realität und Fiktion perfekt verwischen und so das Auge des Zuschauers raffiniert täuschen.
Opulente Bilderwelten begeistern das Publikum.
Schon im Roman überwiegt das Episodische, das Fragmentierte. Haubenstock-Ramati zerlegt und destruiert den Text weiter dergestalt, dass die ohnehin abstruse Handlung und die Handelnden selbst zum Spielmaterial werden. Sebastian Baumgarten ist für diese offene Vorlage zweifellos der Richtige. Zusammen mit der Ausstatterin Christina Schmitt entwirft er eine opulente Bilderwelt, die mit unzähligen Anspielungen die Fantasie und Reflexionsfähigkeit des Publikums anregt und – bisweilen überfordert!
Bunter Bilderbogen
Als grellbunter Bilderbogen, nur ab und zu durch ein bedeutungsschweres stilles Dunkel unterbrochen, folgen sich die Stationen von Karls Odyssee im fremden Land.
Ankunft in New York. Inmitten von Containern.
Überaus gelungen ist die Ankunft, in N.Y., wo die Passagiere über einen Wall von Containern an Land steigen: Stress und Hektik, sodass der naive Jüngling Karl – Paul Curievici mit eloquentem Tenor und packender Bühnenpräsenz – bereits ein erstes Mal schier unter die Räder gerät. Witzig sodann die Darstellung der Freiheitsgöttin – Kafka nennt sie tatsächlich so! Sie reckt anstelle der Fackel der Freiheit ein Schwert in die Höhe, trägt statt der Verfassung im Arm eine Waage – eine Justitia, die ihm Getriebe der Masse fast untergeht? «Justitia» heisst ebenfalls die Zigarettenmarke im Marlboro-Look, womit uns später gigantische Mickey-Mouse-Hände die grenzenlose Freiheit des American Way of Life verheissen.
«Cruella» mit laserartigem Sopran
Eine weitere Station ist das Haus auf dem Lande, das aus geometrischen Zeichen – Türe, Fenster, Tisch, Stuhl – besteht und wo die unheimliche Klara dem armen Karl aufs übelste mitspielt – Mojca Erdmann als blonde Cruella mit laserartigem Sopran macht das grausam gut.
Singen, Tanzen, Slapstick – das Unterhaltungsrepertoire wird voll ausgereizt. (Alle Fotos Opernhaus Zürich/ Herwig Prammer)
Exponierte Gesangspassagen fordert der Komponist auch von der zweiten wichtigen Frauenfigur, der kapriziösen Sängerin Brunelda: Allison Cook, einmal in Glitzerrobe als Hollywood-Star, einmal im Bad als keifende Zicke. Mit markantem Bariton verkörpert Ruben Drole verschiedene Macho-Kerle wie Onkel Jakob, Oberkellner oder Theaterdirektor. Auch die weiteren Rollen sind untadelig besetzt. Daneben setzen zwölf Tänzerinnen und Tänzer mit ihren zum Teil akrobatischen, zum Teil slapstickartigen oder vom Street- oder Breakdance inspirierten Einlagen humorige Akzente – als alerte Liftboys im Hotel Occidental oder malochende Arbeiterschaft. (Choreografie: Takao Baba).
Ironisch in Vielfalt und (Un-)Kultur mutet sodann die letzte Szene an, die Propaganda-Tour des Grossen Theaters. Da versammeln sich unzählige skurrile Figuren aus Märchen und Comics und führen gar eine Krippenspiel-Parodie auf, deren Sinn sich uns nicht erhellt. Und Karl Rossmann wohl ebenso wenig, denn er stülpt sich kurzerhand den Eselskopf über…