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Nawalny ist ein Held!

Helden entstehen durch Erzählungen. Der grosse Sokrates, der gesagt hat: «Ich weiss, dass ich nichts weiss», wusste allerdings von den Dingen, die man wissen konnte, sehr viel. Er nahm sogar am Krieg der Athener gegen Sparta teil. Hätte Platon von Sokrates nichts erzählt, würden wir von dem Prozess, der ihm gemacht wurde, nichts wissen. Er wurde zum Tode verurteilt, weil er behauptet haben sollte, dass es keine Götter gebe. In drei Verteidigungsreden bewies er zwar seine Unschuld, aber das Volksgericht hatte schon gegen ihn entschieden, bevor es ihn anhörte. So sagte er: «Kein Mensch übersteht es lebend, wenn er sich euch oder einer anderen Volksmenge widersetzt und zu verhindern sucht, dass in der Stadt viel Ungerechtes und Gesetzeswidriges geschieht»*.

Die Freunde des Sokrates planten seine Flucht. Er aber stand für die Wahrheit seiner Rede und Taten ein und nahm, als er zu Unrecht verurteilt wurde, den Giftbecher mit der Begründung, er gehorche den Gesetzen. Sokrates war furchtlos und beschuldigte die Ankläger der Unwahrheit.

Platon schreibt: «Als Sokrates dann nicht mehr unter den Lebenden war, bekamen die Athener sehr schnell Gewissensbisse, sie schlossen Sportstätten und Gymnasien, schickten einige in die Verbannung und verurteilten Meletos zum Tode». Dieser Meletos hatte von Sokrates behauptet, er verführe die Jugend von Athen, was Sokrates widerlegte.

Sokrates Geschichte spielte sich im Jahr 399 v. Chr. ab. Sie ist ähnlich jener von Nawalny. Auch er hätte fliehen können. Er aber blieb in ihm feindlich gesinnten Russland. Er war ebenso furchtlos und erlitt bewusst das Opfer seines Todes. Es sollte Zeugnis für die Verlogenheit von Putins Politik ablegen. Wenn nun Tausende von Russen und Russinnen Blumen an seinem Grab niederlegen, wird Nawalny nicht tot bleiben. Seine Botschaft der Freiheit wird über den Tod hinaus weitergetragen und ein Stachel im Fleisch Putins sein.

Nawalnys Geschichte und die Umstände seines Todes werden ihn zu einem Helden erheben. Sie müssen nur in bedeutenden Werken weitererzählt werden. Vielleicht wird er einmal mit einem Denkmal geehrt, während dasjenige von Putin zerstört wird. Der zurzeit berühmteste russische Schriftsteller Wladimir Sorokin sagt in einem Interview**:  «Nawalnys Bild wird die Menschen beeinflussen. Aber Ereignisse zeigen oft erst verzögert eine Wirkung». Das Gedächtnis des Volkes vergisst Nawalny nicht, so wie es dasjenige von Sokrates bewahrt hat. Wird Nawalny die Gestalt von grossen literarischen Erzählungen, lebt er als Unerschrockener weiter. Er wird ein Geschenk für das russische Volk, weil spätere Generationen stolz sagen können, dass einer aus dem Volk wagte, der Diktatur zu widersprechen.

Sokrates wusste, dass Emotionen die Menge beeinflussen. Und heute, wo die Staatsmedien Nawalny als Verräter abstempeln, schweigt der grosse Teil des Volkes. Werden die Fesseln der Macht gesprengt und kommt Licht in die Geschichte, wird Nawalnys Tat leuchten. Nawalny hätte wie Sokrates angesichts des Tods sagen können: «Doch genug damit, jetzt ist Zeit fortzugehen: für mich, um zu sterben, für euch, um weiterzuleben. Wer aber von uns dem besseren Los entgegengeht, ist für uns alle ungeklärt – ausser für den Gott». Wenn sich das Narrativ ändert, wissen wir, wer Held von Russland bleibt.

*Platon: Apologie des Sokrates. Übersetzt von Kurt Steinmann. Manesse
**Interview in der NZZ, 7. März 2024

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3 Kommentare

  1. Sehr lesenswert!
    Einzigartig und tröstlich. Diese Kolumne enthält wesentliche Erkenntnisse und schöpft aus dem grossen Wissensschatz des Autors, Andreas Iten, der einmal mein Lehrer war.
    Herzlichen Dank!

  2. Sie mögen Recht haben, dass der Putin Kritiker Alexei Nawalny für viele Russen als Held gefeiert wird. Aber mit dem Heldentum ist es so eine Sache, zuviel Pathos und wenig konkretes Wissen und ob der Tod Nawalnys in Russland genügt für eine Heldenverehrung? Als unterdrücktes und von der einseitigen Propaganda Putins beeinflusstes Volk, ist es schwer an wahre und detaillierte Informationen über Nawalny und seinen Kampf gegen die herrschende staatliche Korruption zu kommen.

    Ohne Zweifel war Alexei Nawalny ein mutiger, gescheiter Mann und ein begnadeter Redner und Entertainer, der nicht nur viele Menschen für seine Ziele zu überzeugen wusste und dabei gleichzeitig die neuen Medien gekonnt und bewusst einsetzte.
    Wir im Westen werden den Kämpfer Nawalny, der Putin herausforderte, in Erinnerung behalten. Ob Nawalnys Rückkehr nach Russland und in den Tod heldenhaft war oder einfach Selbstüberschätzung, sei dahin gestellt. Aber als Märtyrer, der von Putins Machtapparat gejagt, gequält und getötet wurde, wird er sicher in die Geschichtsschreibung eingehen.
    Der angefügte Link wurde am am 23.11.2023 auf ZDFinfo ausgestrahlt.

    https://www.ardmediathek.de/video/zdfinfo/wer-ist-alexej-nawalny/zdf/Y3JpZDovL3pkZi5kZS9QUk9EMS9TQ01TXzEzN2U5NDNlLTEwNzUtNDRiYi1hYWFkLTM3ODVjZDliZDg3Mg

  3. Ein interessanter Kommentar, Frau Mosimann, der die grundsätzliche Frage aufwirft, woran sich ein Held denn überhaupt erkennen lässt. Wenn die Helden vieler Mythen dazu gerechnet werden, haben sie ja oft überhaupt gar nicht gelebt. Demnach wäre ein Held, wer andere gemeinsam zu grossen Leitsätzen verführte. Bei demokratischem Volksinteresse wären es in diesem Sinne grossartige Leitsätze, die Hoffnung nicht aufzugeben und den Feinden in jedem Moment verdeckt oder offen Paroli zu bieten, für etwas einzustehen und Mühsal für sich und die eigene Familie oder andere auf sich zu nehmen. Somit hätten wir eine mögliche Definition auch für exemplarische Frauen, unvergesslich und bewundert – eben, als Held.

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