StartseiteMagazinKulturEine New Yorkerin im Fruchtland

Eine New Yorkerin im Fruchtland

Das Zentrum Paul Klee in Bern zeigt die bisher umfassendste Retrospektive der amerikanischen Künstlerin Sarah Morris (*1967) in der Schweiz: mehr als 100 Werke, Gemälde, Zeichnungen, Filmposter und Filminstallationen. Gewürdigt wird damit Morris’ einflussreiches Schaffen der letzten dreissig Jahre.

Am Rande von Bern, der beschaulichen Bundesstadt, liegt das Zentrum Paul Klee, umgeben von viel Grün. Das grosse Areal wurde kühn bebaut, die Wege und Strassen nach Werken von Paul Klee benannt, die Adresse des Zentrums lautet Im Fruchtland 3. Dort sehen wir die Werke der bekennenden Grossstädterin Sarah Morris. Sie sagt selbst: «In einer Megacity wie New York fühle ich mich wohl, Lärm, Bewegung, Entertainment, das brauche ich zum Leben.» Mit den Gegensätzen, die an solchen Orten vielleicht krasser aufbrechen als anderswo, arbeitet die Künstlerin, sie lässt sich inspirieren, hinterfragt das scheinbar Offensichtliche.

Kunst im Gespräch mit der Gegenwart

«All Systems fail», der Titel dieser Werkschau, bezieht sich auf die Jahre der Pandemie, wo alles ausfiel: keine Unterhaltung mehr, nur strenge Vorschriften, keine Transporte und folglich keine Waren; auch soziale Netze und politische Systeme schwächelten. Sarah Morris erzählt, dass sie damals Spinnennetze beobachtet habe und feststellte, wie raffiniert sie konstruiert waren: zwar improvisiert, aber technisch perfekt dem Zweck angepasst. – Gemälde, die daraus entstanden, sind ein Thema der Ausstellung.

Sarah Morris: So in a sense it’s abstract as no painting will ever be (Sound Graph 3), 2017. Haushaltlack auf Leinwand. 214×428

Künstlerin und Intellektuelle

Sarah Morris, geboren 1967 in Kent GB, ist grösstenteils in den USA aufgewachsen. Ihr Vater war Wissenschaftler, ihre Mutter in der Krankenpflege tätig, aber nebenher malte sie ständig. Sarah Morris studierte Philosophie und Semiotik, nur nebenher nahm sie ein paar Kurse in Film und Gestaltung. Wichtig war wohl, dass sie früh Einblick in die New Yorker Kunstszene erhielt, als sie bei Jeff Koons als Assistentin arbeiten konnte. Das bestätigte sie darin, ihre Ideen und Ziele in die Hand zu nehmen.

Kein Gegensatz zwischen innen und aussen

Ihr eigenes Atelier in New York lag dann in einem Stadtteil, den sie als Ausgangspunkt ihres Schaffens betrachtete. Mit ihren Malereien beschränkt sie sich nicht auf Gemälde, die im Atelier entstehen und im Museum hängen, stets schuf sie Bilder in öffentlichen Räumen, an Gebäuden, mit Vorliebe in Zentren wie New York oder London. Vorhandene Decken- oder Fussbodenstrukturen inspirieren sie. Ob an einer Hauswand oder in ihren Gemälden auf Leinwand: sie malt klare Formen.

Sarah Morris. Midtown – Viacom [Times Square Reflection], 1998, Haushaltslack auf Leinwand, 214 x 214 cm

Die an sich schon nüchternen Bauten der Städte werden ein weiteres Mal abstrahiert, so dass Farben, Linien, aber auch kompliziertere Strukturen das Bild bestimmen. Die wirken zuweilen dreidimensional. Plakaten fügt sie durch solche Strukturen ebenfalls eine weitere Ebene hinzu. Wer sich darauf einlässt, erfährt etwas von den Hintergründen, auf die Sarah Morris hinweist. Denn darum geht es ihr, wie sie selbst sagte: Einerseits male sie das Augenfällige, andererseits stelle sie dar, was verborgen sei.

Sarah Morris. Rio, 2012; HD Digital, 88:33 mins

Malerei und Film – zwei Schwestern gleichen Ursprungs

Malen und Filme machen, beides steht in Sarah Morris’ Schaffen gleichwertig nebeneinander. Sie setzt sich in beiden Medien mit dem Erbe der Moderne auseinander. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die Zeit: Während Bilder ausserhalb der Zeit stehen, beziehungsweise, wie sie sagt: «ohne Zeit» entstehen, ist der Film und damit die Arbeit daran stets mit Schnelligkeit verbunden. Sie liebt das Spiel mit den Gegensätzen: Leere – Fülle; oder mit Gleichzeitigkeiten: ein schlafender Mann neben einem laufenden Fernseher. Beide sind nebeneinander, aber ohne in Beziehung zu stehen.

Sarah Morris. Beijing, 2008. 35mm / HD Digital; 84:47 mins

Mit ihren Filmen ist sie berühmt geworden. Es gelang ihr, die Erlaubnis für die unterschiedlichsten Drehorte zu erhalten, an der Olympiade in Peking 2008, im Washingtoner Regierungsviertel am Ende der Administration Clinton, in Los Angeles, im futuristischen Abu Dubai und andernorts. In zwei Boxen sind einige ihrer Filme zu sehen. Es lohnt sich, sie ganz anzuschauen. Sarah Morris verfügt über ein unheimliches Geschick, durch stille – wortlose – Einstellungen, krasse Schnitte und Grossaufnahmen das Leben einer Gesellschaft sichtbar zu machen.

Ein Kaleidoskop von Filmen

Weniger spektakulär, aber nicht weniger eindrucksvoll ist ein anderer ihrer Filme «Finite and Infinite Games (2017)», den sie in der Hamburger Elbphilharmonie drehen konnte. – Der Bau mit der unendlichen Entstehungsgeschichte ist zur Drehzeit noch nicht vollendet. Für den «inhaltlichen» Teil konnte sie Alexander Kluge gewinnen, der aus seinen Frankfurter Poetikvorlesungen liest und Texte von Sarah Morris vorträgt, und dabei gefilmt wird.

Die Künstlerin hat hier wohl einen älteren «geistigen Bruder» gefunden, denn Kluge ist nicht nur als stets kritischer Zeitbeobachter, sondern auch als scharfsinniger Filmer bekannt. Sarah Morris hatte als Studentin die Philosophie von Adorno und Horkheimer kennengelernt. – Kluge hatte neben Jura deren Vorlesungen in Frankfurt besucht und wurde dann der juristische Vertreter der beiden.

Sarah Morris. Foto: Anna Gaskell (Ausschnitt)

«Die Werke von Sarah Morris sind immersive ästhetische Erlebnisse, in denen sich Bild und Ton, Malerei und Film, Populär- und Hochkultur, Moderne und Gegenwart gegenseitig in Bewegung versetzen», schreibt Martin Waldmeier, der die Ausstellung zusammen mit Direktorin Nina Zimmer kuratiert hat. Und die Künstlerin zeigt sich beeindruckt, als sie ihre Werke aus dreissig Jahren hier in der Ausstellung versammelt sieht: «It’s all in my mind – it’s thought» – Was sie in ihrem Geist und ihrer Erinnerung mit sich trägt, ist hier öffentlich sichtbar.

Sarah Morris. All Systems fail. Die Ausstellung im Zentrum Paul Klee Bern ist bis 4. August 2024 anzuschauen. Beachten Sie den Digital Guide.

Zur Ausstellung ist eine umfangreiche und informative Publikation erschienen:
Sarah Morris. All Systems fail.
Hatje Cantz Verlag. Mit Beiträgen von Christopher Bollen, Bettina Funcke und Asad Raza. Deutsch / Englisch. 320 Seiten, 508 Abb. ISBN 978-3-7757-5472-9

Titelbild: Sarah Morris. Foto: Anna Gaskell.
Alle Fotos:
© Sarah Morris

 

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