Der deutsche Regisseur Wolfgang Hagemann hat für das Berner Theater Effingerstrasse Yasmina Rezas Klassiker «Der Gott des Gemetzels» inszeniert. Das Stück handelt vom eskalierenden Konflikt zweier Ehepaare, der durch eine gewalttätige Auseinandersetzung unter ihren Söhnen ausgelöst wurde und in ein Gemetzel zwischen den beiden Erwachsenen ausartet.
Man wolle die «Kunst des dezidierten Umgangs miteinander pflegen», versprechen sich die beiden Ehepaare zu Beginn des Stücks. «Keiner habe etwas davon, wenn wir uns die Köpfe einschlagen», lautet ein zweiter Vorsatz. Doch schon bald wird der Ton rauer. Beim Ausfüllen des Versicherungsformulars äussern die beiden eigentlich zivilisierten Ehepaare erste Boshaftigkeiten, bis die Diskussion vollends aus dem Ruder läuft.
Auf gezielte Beleidigungen folgen Schläge unter die Gürtellinie, die anfängliche aufgesetzte Freundlichkeit entgleist und verwandelt sich in direkte Herabsetzungen und offene Feindschaft. Als Symbol für die Hässlichkeiten, die aus den Mündern quellen, wird über Bücher gekotzt. Sogar ein unschuldiger Blumenstrauss muss dran glauben. Verstreut über die Bühne liegen die Blütenblätter, genau wie die zerstörten guten Kommunikationsvorsätze.
Zwischen aufgesetzter Harmonie und offener Ablehnung.
Der Gott des Gemetzels (französischer Originaltitel: Le Dieu du carnage) ist ein an deutschen Bühnen oft gespieltes Theaterstück der französischen Erfolgsautorin Yasmina Reza. Das Stück wurde am 2. Dezember 2006 am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. 2011 kam es als Film in die Kinos. Vor zwei Jahren war das Stück am Berner Theater Matte in einer berndeutschen Version zu sehen.
Die Handlung
Das Ehepaar Véronique und Michel Houillé (Nina Mariel Kohler und Fabian Guggisberg) empfängt in seiner Pariser Wohnung das Ehepaar Annette und Alain Reille (Emily Mrosek und Jeroen Engelsman). Der elfjährige Sohn Ferdinand Reille hat den gleichaltrigen Bruno Houillé in der Schule mit einem Stock ins Gesicht geschlagen, wobei dessen Schneidezähne beschädigt und ein Nerv teilweise freigelegt wurde. Die Eltern der beiden sind zusammengekommen, um das Geschehen zu diskutieren und die Versicherungsfrage zu regeln.
Das Gespräch beginnt harmlos. Annette und Alain zeigen sich schuldbewusst und Véronique und Michel geben zu verstehen, dass sie eine friedvolle Übereinkunft anstreben, wenn nicht sogar zur Vergebung bereit sind. Doch langsam erhält der Konflikt einen anderen Ton: Die Diskussion wird ständig durch Alain unterbrochen, der berufliche Anrufe auf sein Mobiltelefon erhält. Ausserdem klingelt mehrfach das Telefon der Houillés, weil Michels Mutter ständig anruft.
Diskussion über Opfer und Täter.
Nach und nach drängen die Schwachpunkte der einzelnen Lebensläufe an die Oberfläche. Die Atmosphäre wird zunehmend aggressiver und damit auch die Beurteilung der Tat des elfjährigen Ferdinand und die Beurteilung der Opferrolle von Bruno. Véronique und Michel können die Verurteilung jeglicher Gewalt nicht mehr aufrechterhalten, als sich herausstellt, dass Michel heimlich den Hamster seiner Tochter entsorgt und getötet hat.
Das Ehepaar Reille nutzt diesen Umstand, um die Schuld von ihrem Sohn abzuwenden. Sie stellen Michels Handeln als unverantwortlich und schändlich dar. Michel gilt als der Weichling, möchte aber neben dem skrupellosen Anwalt Alain härter wirken, als er es tatsächlich ist. Annette leidet unter ihrem ignoranten Ehemann.
Dann serviert Michel als vordergründig guter Gastgeber einen ausgezeichneten Rum. Der Alkohol bewirkt die Eskalation. Annette übergibt sich auf einen wertvollen alten Bildband der Gastgeber und ertränkt das Handy ihres Mannes in einer Vase mit Tulpen.
Ausdruck der Bösartigkeiten: Annette übergibt sich.
Wohlstandsmasken fallen
Ursprünglich sollte der Schaden geregelt und die Beziehung zwischen den Söhnen wiederhergestellt werden, doch dann lassen die beiden Paare ihre eleganten Wohlstandsmasken fallen und ergehen sich in einem Streit, wobei die Koalitionen paarübergreifend wechseln. Michel solidarisiert sich mit Alain, während sich die Ehefrauen weinend in die Armen liegen. Kurze Zeit später gehen die Ehepaare wieder aufeinander los.
Solidarisierende Ehemänner.
Was als gesittetes Beisammensein beginnt, eskaliert in scharfe Wortgefechte und körperliche Auseinandersetzungen – eine echte «Saalschlacht». Am Ende des Abends erkennen alle Beteiligten resigniert: Trotz ihrer scheinbar liberalen und aufgeklärten Haltungen scheint ein unerwarteter Faktor die Oberhand zu gewinnen – der Gott des Gemetzels.
Nahe am französischen Original
Autorin Yasmina Reza hat einen Klassiker des satirischen Gesellschaftsstücks geschrieben. Regisseur Wolfgang Hagemann verstand es, das Stück nahe am französischen Original als unterhaltsame bitterböse Komödie über die verbreitete Heuchelei der Zivilisation zu inszenieren. Die Thematik hat seit der Uraufführung nichts an Witz und Aktualität eingebüsst hat. Mit geschliffenen Dialogen und einem herausragenden Gespür für gutes Timing folgt Hagemann gekonnt der Logik der Eskalation und eröffnet schonungslos den Blick in den Abgrund des Allzumenschlichen.
Frust am Blumenstrauss der Gastgeber abreagiert.
Auf ebenso wilde wie laute Szenen folgen immer wieder wohltuende, ruhige Momente, die Platz fürs Reflektieren machen und dem Publikum einen Spiegel vorhalten. Fairness, Toleranz und Ehrlichkeit sind wichtige Werte im zwischenmenschlichen Umgang. Aber ebenso wichtig ist eine anständige, aufrichtige, empathische Kommunikation, die auf unnötige Attacken und Verletzungen verzichtet.
Titelbild: Michel (rechts) ereifert sich, während Alain (links) apathisch zuhört. Alle Fotos Severin Nowacki.
Aufführungen noch bis 27.6.2024
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Wolfgang Hagemann Hochachtung!