Eine Exkursion zur verborgenen «Urkultur im Schwarzwald und der Schwäbischen Alb» hat mich neugierig gemacht. Unterwegs mit dem Kulturanthropologen Kurt Derungs auf den frühesten Spuren der Menschheit zu «Abnoba und die Steinzeitfrau», war ein besonderes Erlebnis.
Kurt Derungs (*1962) ist bekannt für seine Bücher etwa Mythologische Landschaft Schweiz oder Geheimnisvolles Zürich. Er leitet die Akademie der Landschaft mit Sitz in Grenchen und erforscht seit 25 Jahren mythische Berge, Heilquellen, rätselhafte Stein- und Kultplätze, Felszeichen oder Höhlen. Auch wenn das Wissen dazu verloren ist, lebt es in «verchristlichter» Form, in Ortsnamen, Märchen, Legenden, auch in Kinderreimen weiter. Archäologische Funde geben zeitliche Anhaltspunkte, von der Steinzeit bis zu den Kelten.
Schwörstadt, Dolmengrab. Der Lochstein war Teil einer Steinkammer, in der 19 Skelette, Schmuckstücke und eine kleine Frauenfigur aus der Jungsteinzeit gefunden wurden. Durch das sogenannte Seelenloch fiel das Licht auf die Verstorbenen, was auf eine Wiedergeburts-Mythologie hinweist.
Abnoba ist eine Art Landschaftsgöttin und personifiziert den Schwarzwald. Der keltische oder vorkeltische Name ist auch in Frankreich und England unter Avon oder Aven bekannt. Die Römer nannten den Schwarzwald Abnoba mons und setzten in Inschriften auf Weihealtären Abnoba der römischen Jagdgöttin Diana gleich. Die Kelten verehrten Abnoba als Beschützerin des Waldes, des Wildes und besonders der Quellen. Frauen mit Kinderwunsch suchen in gewissen Gegenden noch heute Quellen auf und hängen kleine Stoffpuppen an Büsche und Sträucher.
Unter dem Hirz-Bauernhof in St. Georgen entspringt die Brigach, ein Zufluss der Donau. Der Dreigötterstein über der Quellfassung wurde durch eine Kopie ersetzt.
Die Quelle der Brigach in St. Georgen, ein Zufluss der Donau, befindet sich direkt unter dem Hirz-Bauernhof (Hirz oder Hirsch). Hier wurde 1898 eine Steinplatte gefunden mit einer Reliefdarstellung von Hirsch, Vogel und Hase sowie mit drei Köpfen auf Säulen. Dieser sogenannte Dreigötterstein deutet auf Abnoba hin, die in sich die drei Aspekte des Frauseins vereint: die Gebärende, die Nährende und die Alternde.
Das Original des Dreigöttersteins, der 1898 bei der Quelle der Brigach in St. Georgen entdeckt wurde, befindet sich heute im Lapidarium der Stadt St. Georgen.
Die Dreiheit ist auch im Kult der drei Bethen bekannt: Wilbeth, Ambeth und Borbeth, die keltisch-alpenländischen Mutter- und Schicksalsgöttinnen. Sie repräsentieren eine zyklisch angelegte Weltordnung von Werden, Reifen und Vergehen. Bei Geburt, Krankheit und Tod wandten sich die Menschen an sie, sei es für Mensch, Tier oder für die Landwirtschaft. Im Christentum wurden diese drei Madln von der einzigen Gottesmutter Maria abgelöst. Auf einem Seitenaltar in der spätmittelalterlichen Kirche in Obereichsel erinnern die drei Heiligenfiguren Wibrandis, Kunigundis und Mechtundis an die vorchristlichen Bethen, die Vegetations- und Muttergöttinnen.
Die drei Heiligen Wibrandis, Kunigundis, Mechtundis erinnern an die vorchristlichen drei Schicksalsfrauen, die Parzen, Nornen oder Bethen, die in Märchen und Mythensagen überlebt haben.
In Todtmoos steht auf einem Hügel, dem Schönbühl, eine Wallfahrtskirche, die nach einer Marienerscheinung 1255 erbaut wurde. Nicht nur in Pestzeiten, auch heute pilgern Menschen dorthin, wie die kleinen Pilgerhütten am Weg zur Kirche zeigen. Hier wird in der Kirche zu Maria gebetet, und abseits im Wald verehrten einst die Menschen Abnoba bei den Wasserfällen. Diese rauschen steil über die Felsen und machen deutlich, die Menschen in der Vorzeit brauchten keine Kirchen und Altäre. Die Natur war für sie das Heiligtum an sich.
Die beseelte Natur der Wasserfälle in der Nähe von Todtmoos war in der Vorzeit, wie der ganze Schwarzwald, ein Naturheiligtum der Abnoba.
Nicht nur Gewässer und Wälder standen in Beziehung zu Abnoba, auch Berge und Hügel wie der Schwarzwälder Belchen mit 1414 m.ü.M., der ein Dreieck mit dem französischen Belchen, dem Ballon d’Alsace im Westen und dem Schweizer Belchen, der Belchenflue im Süden bildet. Dieses sogenannte Belchen-System soll den Kelten als astronomischer Kalender gedient haben. So lässt sich der Sonnenaufgang an den Tagundnachtgleichen sowie an der Wintersonnenwende jeweils über einem der benachbarten Belchen beobachten.
Trübe Aussicht vom Schwarzwälder Belchen aus auf die hügelige Landschaft. Bei klarer Sicht sind im Rundumblick die beiden Belchen in den Vogesen und im Baselbiet zu sehen, sogar die Schweizer Alpen.
Im Archäologischen Museum Colombischlössle in Freiburg sind zwei römische Weihesteine erhalten, auf denen die Quellgöttin Abnoba inschriftlich erwähnt wird. Zudem befinden sich in einer Vitrine kleine Frauenfiguren mit ausladendem Gesäss. Vermutlich wurden sie als Anhänger getragen oder waren an der Kleidung angenäht. Die Statuetten stammen vom Petersfels bei Engen im Hegau und sind etwa 12’000 Jahre alt.
Das Freiburger Münster wirkt bei Mondschein ebenso geheimnisvoll wie die Schätze im archäologischen Museum «Colombischlössle».
Das Franziskanermuseum in Villingen-Schwenningen zeigt Fundstücke sowie eine grosse Grabkammer aus Holz von 8 auf 6,5 Meter aus der Hallstattzeit (616 v. Chr.). Sie stammen aus dem Grabhügel von Magdalenenberg, etwas ausserhalb von Villingen. Hier waren 126 Gräber rund um die zentrale Grabkammer einer ranghohen Persönlichkeit angeordnet. Die Hauptkammer wurde schon wenige Jahrzehnte nach der Grablegung geplündert. Dennoch wurden Reste eines vierrädrigen Wagens, Pferdezaumzeug, Dolche aus Bronze und Eisen sowie ein Bernstein-Collier, das auf mögliche Fernhandelsverbindungen hinweist, gefunden. Zudem ein Holzwerkzeug der Grabräuber.
Die Reise führt weiter in die Schwäbische Alb, in ein Karstgebiet mit faszinierenden Felsformationen. So auch eine Felssäule am Lochen bei Balingen, wo auf der Anhöhe bei einer bronzezeitlichen Siedlung Kultobjekte gefunden wurden. Den Fürstlichen Park Inzigkofen liess die Hohenzoller Fürstin Amalie Zephyrine (1811-1829) zu einem romantischen Landschaftsgarten gestalten mit einer Teufelsbrücke über die Höllschlucht sowie mit zahlreichen steilen Treppenwegen hinunter zur Donau. Auch ohne das Zutun der Fürstin wirken die Felsformationen zusammen mit der Donau wie ein landschafts-archäologisches Naturheiligtum.
Blick auf die Donau und den «Amalienfels» im Park von Inzigkofen.
Die Karsthöhle Hohlefels bei Schelklingen im Achtal gehört heute zum UNESCO-Welterbe. Ein Gang führt zur 30 m hohen Höhlenhalle, eine der grössten Höhlen in diesem Gebiet. Da sie im frühen 19. Jahrhundert unsachgemäss geräumt wurde, stossen die Archäologen heute nur noch im unberührt gebliebenen Eingangsbereich auf Relikte.
Links: Die «Venus vom Hohlefels», Mammutelfenbein, ca. 40’000 Jahre, ist die älteste bekannte figürliche Darstellung eines Menschen. Foto: Wikicommons. Rechts: Blick ins Innere der 30 m hohen Höhle Holefels im Achtal.
Die steinzeitlichen Fundstücke aus der Höhle Hohlefels werden im Urgeschichtlichen Museum URMU in Blaubeuren ausgestellt. So die Ahnfrau vom Hohlefels. Sie ist mit etwa 40’000 Jahren die älteste bekannte figürliche Darstellung eines Menschen. Eindrücklich sind auch ein Wasservogel im Tauchgang, Flöten und mit roten Punkten bemalte Steinfragmente. Ebenso wurde in dieser Höhle ein Löwenmensch (2,6 cm) gefunden, eine Mini-Version des Löwenmenschen aus dem Lonetal, der als einmalig und rätselhaft galt. Offenbar war die Verschmelzung zwischen Löwen und Menschen ein wichtiger Bestandteil der Glaubenswelt jener Zeit.
Der Blautopf in Blaubeuren mit seiner intensiv blauen Farbe ist ein Naturphänomen.
In Blaubeuren ist der Blautopf eine Touristenattraktion. Diese Karstquelle ist ein Naturphänomen. Hier entspringt die Blau, die in Ulm der Donau zufliesst. Das Quellwasser sammelt sich in einem Teich, dem Blautopf, und leuchtet je nach Lichteinfall in intensiv blauen und grünen Farbtönen. Eduard Mörike schrieb dazu das Märchen Die schöne Lau, die von ihrem Ehemann, dem alten Wassernix, in den Blautopf verbannt wurde und hier wieder lachen lernte.
Titelbild: Im Wald oberhalb von Sipplingen am Bodensee stehen die 7 «Churfirsten» aus Sandstein, die wie versteinerte Menschen aussehen. Die «Mützen» aus hartem Gestein schützen das darunterliegende Material vor Abtragung. Die Natur-Menhire dürften für die Pfahlbauern am See eine spirituelle Bedeutung gehabt haben.
Fotos: rv
Webseite der Reiseleitung: Kurt Derungs «Akademie der Landschaft»
Ein toller Artikel zu sehr sehenswerten Orten!
Vielen Dank, Ruth!