Zum ersten August werden wieder die Schweizerflaggen rausgehängt. An den olympischen Spielen in Paris wehen die Flaggen der teilnehmenden Nationen. Wo ist das Weltbürgertum, die Sorge um den gemeinsamen Planeten Erde geblieben?
Seyla Benhabib, emeritierte Philosophin der Yale Universität, hat 2023 Vorlesungen am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien gehalten, die vor kurzem als Buch unter dem Titel «Kosmopolitismus im Wandel» erschienen sind. Sie ist Trägerin des diesjährigen mit 50 000 Euro dotierten Adorno-Preises. In der Begründung der Jury heisst es u.a.: «Im Fokus ihrer Überlegungen steht die Frage, wie wir ihn (den Kosmopolitismus) in der heutigen Welt zusammen mit dem Bemühen um Gerechtigkeit im Globalen Süden und dem Streben nach planetarischer Nachhaltigkeit neu denken können.»
Wir lesen tagtäglich, wie sich Politikerinnen und Politiker in vielen Staaten mehr oder weniger gehässig im Spannungsfeld von nationalen Interessen und der Sorge um ein friedliches Zusammenleben auf unserem Planeten streiten. Wie sollen die Folgeerscheinungen des Klimawandels zwischen Dürren und Überschwemmungen eingedämmt werden? Wie kann das Artensterben gemindert werden? Was können einzelne Staaten, was die globale Staatengemeinschaft unternehmen, so dass die Erde für Menschen auch in Zukunft bewohnbar ist. Was kann getan werden, dass im eigenen Land und überall auf der Erde die universellen Menschenrechte eingehalten werden, dass alle Menschen in ihrer Heimat in Würde leben können und nicht in die Flucht getrieben werden? Nach Angaben des UNHCR (Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen) wurden 2023 mindestens 117,2 Millionen Menschen auf der ganzen Welt gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen. Da wirken rechtsnationale Slogans wie America first oder Make America Great Again mehr als zynisch. (Statt America kann man auch irgendeinen anderen Staat einsetzen, z.B. Switzerland first oder Make Germany Great Again!).
Global erwirtschaftetes Geld mit der Externalisierung von Umweltkosten sollten dem Planeten und seinen Bewohnenden zugute kommen und nicht denjenigen Staaten, welche Milliardären die besten Bedingungen für Steuerflucht bieten. (vgl. die Diskussion um die Erbschaftssteuer-Initiative der Juso und die potentiellen Steuerflüchtlings-Milliardäre à la Peter Spuhler).
Seyla Benhabib will keinen Weltstaat auf Kosten der Nationalstaaten. In ihrem Fazit schreibt sie deshalb: «Ich habe zwischen vier Arten von Idealtheorie unterschieden: liberalem Nationalismus, liberalem Internationalismus, neoliberalem Globalismus und Kosmopolitismus. Ich habe die Ansicht vertreten, dass diese Kategorien sich nicht gegenseitig ausschliessen und dass ein kosmopolitischer Ansatz der Selbstbestimmung interdependenter Souveränitäten auch von den drei anderen Ansätzen lernen muss.»
Das Buch von Seyla Benhabib tut gut in einer Zeit des Versuchs verschiedener Grossmächte, ihre Macht- und Ausbeutungssphären auf Kosten anderer zu vergrössern. Gemäss Statista betrugen die Ausgaben für das Militär im Jahre 2023 weltweit 2,4 Billionen US-Dollar, davon USA mit 916 Milliarden, China 296, Russland 109.
Seyla Benhabib zeigt eindringlich, dass es von allen Staaten ein planetares Bewusstsein braucht. Die Vielfalt der Kulturen und Völker soll auf der Grundlage der Menschenrechte geachtet werden. Dazu braucht es weltweite Abrüstung und eine umweltverträgliche Lebensweise. Wir stehen mit Kant und seiner Schrift «Zum ewigen Frieden» auf gutem Boden und auch andere Aufklärer haben weltbürgerliche Sichtweisen formuliert. Es braucht aber einen Kosmopolitismus ohne Imperialismus und (Neo-)Kolonialismus. Dazu braucht es noch viele Anstrengungen vieler vernünftiger Politikerinnen und Politikern und lokal verwurzelter Menschen mit kosmopolitischem Horizont.
Neben den Nationalflaggen gab es immer wieder mal Versuche für kosmopolitische Flaggen:
Die Flagge der UNO, der Vereinten Nationen. Die UNO bedarf dringender Erneuerungen, um den Weltfrieden und die Bewohnbarkeit des Planeten für zukünftige Generationen zu sichern.
World Citizen Flag der von Garry Davis 1948 initiierten Weltbürgerbewegung. Diese Flagge scheint mir problematisch, da sie zu sehr das Anthropozän zum Ausdruck bringt: Der Mensch beherrscht den Planeten statt im Einklang mit der Natur zu leben.
The international Flag of Planet Earth, ein Vorschlag von Oskar Pernefeldt aus dem Jahre 2015. Zur Zeit gibt es keine von allen Staaten anerkannte Flagge für kosmopolitisches Bewusstsein.
Das bloss 92 Seiten umfassende Büchlein von Seyla Benhabib bringt keine Lösungen und viele verwendeten Begriffe und Erläuterungen führen eher zu Fragen als zu Antworten. Die Leserschaft erhält aber den Eindruck, dass wir am Übergang zu einer neuen historischen Epoche sind, wo Politikerinnen und Politiker ihrer Wählerschaft im Moment noch Sand in die Augen streuen mögen und die Wählerschaft sich bereitwillig Sand in die Augen streuen lässt, um nicht aus dem Traum der bisherigen Wachstums- und Konsumgesellschaft erwachen zu müssen. Lieber früher als zu spät wird der Weltgemeinschaft hoffentlich klar werden, dass statt militärischer Aufrüstung eine weltweite Friedenspolitik im lösungsorientierten Gespräch ansteht und dass die Ausbeutung der Natur Grenzen hat. Irreparable Schädigungen der Natur können nicht zukünftigen Generationen aufgebürdet werden. Überschwemmungen und Dürren mit riesigen Waldbränden, Artensterben und vieles mehr können irgendwann nicht mehr durch verlogene politische Beschwichtungsrhetorik zerredet werden. Sich nationalistisch abzuschotten und sich auf Kosten der Armen dieser Welt zu bereichern und dabei den Planeten weiterhin auszuplündern muss ein Ende haben.
Titelbild: Globale Probleme bloss durch durch eine nationalistische Brille zu betrachten, kann zu einem bösen Erwachen führen.
Buch: Leyla Benhabib: Kosmopolitismus im Wandel. Zwischen Demos, Kosmos und Globus. Berlin 2024. ISBN: 978-3-99136-053-7
Fotos aus Wikimedia Commons
Besten Dank für diesen wichtigen Beitrag mit dem Buchtipp. Das kartonierte Taschenbuch von Leyla Benhabib: Kosmopolitismus im Wandel, habe ich mir bei Exlibris für 16.00 Franken bestellt. Der Inhalt bringt die Themen zur Sprache, die mich sehr beschäftigen und über die überall diskutiert werden sollte. Aber vor allem ist es ein Weckruf an unsere Politiker:innen, ihre Verantwortung für die Zukunft unseres Landes, Europas und schliesslich der Welt, wahr zu nehmen.