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Solidarität statt Krämermentalität

Schrecklich ist der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Ebenso der inhumane Gaza-Krieg nach dem grauenvollen Überfall radikal islamischer Hamas. Hinzu kommen weitere Kriege mit Schweizer Waffen, Umweltschäden und Menschen, die flüchten müssen.

Im 20. Jahrhundert starben 120 Millionen Menschen im Krieg. «Nie wieder!», sagten alle. Einzelne Länder rüsteten sogar ab, allerdings nur kurz.

«72 Minuten bis zur Vernichtung» heisst ein neues Buch (2024) von Annie Jacobsen. Die US-Autorin hält einen globalen Atomkrieg für «möglich und realistisch». Und «Pax Vienna» stimmt ihr zu. Das Wiener Friedensbüro gedachte dieser Tage an Hiroshima und Nagasaki. Am 6. und 9. August 1945 zerstörten US-Nuklear-Bomben diese japanischen Städte.

Seit 2021 liegt nun, völkerrechtlich anerkannt, ein (AVV-)Vertrag vor. Er basiert auf einer Resolution der Vereinten Nationen und verbietet Atomwaffen. Rund hundert Länder unterschrieben ihn. Der Schweizer Bundesrat weigerte sich im März 2024 jedoch erneut, dies zu tun. Unsere Landesregierung folgt damit den Atommächten und fast allen NATO-Staaten. Das sind, auch militärisch, unsere wichtigsten Handelspartner.

Ich lebe gerne in der Schweiz und schätze hier viel. Mich stört jedoch ein Doppelspiel. Die Eidgenossenschaft switcht seit ihren Anfängen zwischen Solidarität und einer Krämermentalität mit selektiver Geschäftsneutralität. Die Kappeler Milchsuppe symbolisiert schon früh die Solidarität, das Söldnerwesen die Krämermentalität.

1529 verbrannten katholische Schwyzer den protestantischen Landpfarrer Jakob Kaiser auf dem Scheiterhaufen. Danach prallten in Kappeln am Albis reformierte Zürcher Truppen auf katholische der Innerschweiz. Unabhängige Orte riefen zum Verhandeln auf. Und während sich die Anführer zurück zogen, verbrüderten sich die Soldaten bei einer Milchsuppe. Das besagt die Legende. Und die Konfessionen wollten sich nun «gelten lassen». So lautete der Kompromiss. Die Religionszwiste dauerten allerdings noch lange. Und der Reformator Huldrych Zwingli rief bereits 1531 zu einem Zweiten Kappeler Krieg auf.

Bis zum 20. Jahrhundert war die Schweiz dann ein Auswanderungsland. Unzählige Wirtschaftsflüchtlinge emigrierten. Rund zwei Millionen Eidgenossen dienten zudem in eigenen Bataillonen fremden Mächten. Das Reislaufen wurde erst 1859 untersagt, nachdem der Wiener Kongress (1815) die Schweizer Neutralität besiegelt hatte. Schweizer Legionäre wirkten jedoch noch im 20. Jahrhundert zu Tausenden in europäischen Kolonien.

Ursprünglich waren die Söldner so begehrt, weil die Eidgenossen viele Schlachten gewonnen und sogar bis nach Mailand expandiert hatten. Nach der Niederlage in Marignano (1515) und dem «ewigen Frieden» mit dem französischen Königreich wollten sie indes mehr beherzigen, was der Einsiedler Niklaus von Flüe (Bruder Klaus) schon ein halbes Jahrhundert vorher postuliert hatte: «Macht den Zaun nicht zu weit!» und «Mischt Euch nicht in fremde Händel!» Und so erfuhren die Eidgenossen, wie lukrativ Neutralität sein kann.

Von 1618-48 tobte in Europa der dreissigjährige Krieg um religiöse und andere Vorherrschaften. Zwei Drittel der Süddeutschen Bevölkerung kamen dabei um. Die Eidgenossen hielten sich zurück. Sie profitierten vom Handel (statt externer Händel) und der Basler Bürgermeister Johann Rudolf Wettstein vermittelte geschickt. Der Westfälische Frieden bekräftigte dann die Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft und steht für Solidarität. Die Eidgenossen nutzten die Not der Kriegsparteien aber auch, um einträgliche Geschäfte zu machen. Im Sinne der Krämermentalität.

Und heute? Ein kleines Zeichen gegen das Kriegen und gefährliche Aufrüsten wäre zumindest, das Verbot von Atomwaffen zu unterschreiben. Statt Probleme weiter mit Mitteln anzugehen, die sie mit verursachen. Wichtig ist eine Solidarität ohne Krämermentalität. Sonst geht die Welt zugrunde. Vielleicht sogar in 72 Minuten.

Titelbild: Ueli Mäder. Foto © Christian Jaeggi

Buchhinweis: Annie Jacobsen: 72 Minuten bis zur Vernichtung. Heyne Verlag 2024. ISBN 978-3-453-21878-9


Am Donnerstag, 29. August 2024 (19 Uhr) gastiert Barbara Lüthi vom Schweizer Fernsehen SRF im Kultur-Bistro Cheesmeyer, Sissach. In Ueli Mäders Gesprächsreihe «Für eine friedliche Zukunft» geht es um Wirtschaft, Politik und Medien. Die Club-Moderatorin hat mehrere Jahre «Live aus China» berichtet. Und Schweizer Geschäftsleute sammelten (vergeblich) Unterschriften, um sie abzusetzen. Die Korrespondentin schade den schweizerisch-chinesischen Handelsbeziehungen, lautete die Begründung.

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1 Kommentar

  1. Ganz recht, geschätzter Ueli Mäder, ein Rückblick in die Vergangenheit zwingt uns, die Schweiz realistischer und ehrlicher zu sehen. Die Schweizer Politik fuhr schon immer zweigleisig und die Auslegung unserer heiligen Kuh, der Neutralität, ist oft so flexibel, wie es gerade nützlich erscheint. Diese Doppelmoral sollte eliminiert und mit einer Anpassung an die heutige Zeit reformiert werden.

    Doch unser Land und die Schweizer Demokratie steht vor weit grösseren Herausforderungen. Die 2006 von Brasilien, Russland, Indien und China gegründeten BRICS-Staaten, sie umfassen heute ca. 45 % der Weltbevölkerung, lehnen grundsätzlich die demokratischen Werte des Westens ab und streben eine neue geopolitische Weltordnung nach Chinas Vorbild an.

    Die Schweiz täte gut daran, diese Gefahr zu realisieren und sich endlich mit der Europäischen Union zu solidarisieren, um gemeinsam Strategien zu erarbeiten, wie die Stärkung und Verteidigung unseres Kontinents gelingen kann. Es könnte sonst passieren, dass wir eines Tages aufwachen und ein unbedeutendes Anhängsel eines stark wachsenden Staatenbundes sind, wo Menschenrechte keine Bedeutung haben, sondern eine Diktatur einer seelenlosen Ideologie unser Leben bestimmt.

    https://www.destatis.de/DE/Themen/Laender-Regionen/Internationales/Thema/allgemeines-regionales/BRICS/_inhalt.html

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