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Das Leben mit Kunst meistern

Pierre Bonnard wäre nicht der Maler, den man kennt, ohne seine Geliebte und Muse Marthe. Martin Provost hat mit «Bonnard, Pierre et Marthe» die beiden Menschen und ihre Kunst mit Empathie und Klarsicht beschrieben und damit einen schönen und vielschichtigen Film geschaffen. Ab 22. August im Kino.

Das ist kein Biopic wie andere! So meine spontane Reaktion. Nachdem ich meine Meinung bereits dem Verleiher mitgeteilt habe, bin ich gefordert, sie zu begründen, und schlage Ihnen vor, den Film auch mal auf diese Weise zu befragen.

Erfahrungen mit dem Film

Bereits die erste Sequenz lässt aufhorchen: Marthe, die Pierre Modell steht, bietet ihm Widerstand, fordert ihn heraus, lehrt ihn sprechen. Er antwortet, nachdem er bisher stumm gemalt hat. Bald schon werden aus Worten Gesten, sie lieben sich und geben ihre Namen bekannt: Marthe Méligny, Pierre Bonnard. Nachdem er sich zum Malen zurückzieht, ist sie wieder allein.

Pierre braucht Marthe als Geliebte für seine Kunst; Marthe braucht Pierre für ihr Leben, denn sie hat Asthma und bekommt kaum genug Luft zum Atmen: eine der Abhängigkeiten, die sie verbinden.

Gemeinsam treffen sie in Paris Bonnards Künstlerfreunde bei einem Klavierkonzert von Misia, einer berühmten, von vielen geliebten Musikerin, die das Absolute und die Freiheit liebt. Neben dieser wilden, leidenschaftlichen Frau erlebt Marthe sich als gewöhnliche Hausfrau. Pierre bringt die beiden in einer Kussszene zu einer kurzen glücklichen Dreierbeziehung.

«Sie existiert nur durch den Blick eines Malers», meint bei einem Essen Misia zu Marthe, und beginnt einen Kampf, der in einer Schlacht in der Seine endet. Untergründig meint die Rivalität auch den sozialen Stand der Frauen: Die eine möchte gut bürgerlich heiraten, die andere ihre Liebe frei ausleben. Wieder allein, beginnt Marthe zu malen und finden zu sich.

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Marthe will ein Kind, Pierre nicht

Martin Provost zu seinem Film 

Wie kamen Sie auf die Geschichte von Pierre und Marthe Bonnard?

Nach «Séraphine» (seinem Film von 2008) wurde ich von Pierrette Vernon, der Grossnichte von Marthe Bonnard, angesprochen, die mich davon überzeugen wollte, einen Film über ihre Grosstante zu drehen, da sie der Meinung war, dass die grundlegende Rolle, welche diese im Werk von Pierre Bonnard gespielt hatte, nicht ausreichend gewürdigt wurde. Marthe war sozusagen zu seinem Emblem und Fetisch geworden, obwohl die Darstellungen von Marthe fast ein Drittel seines Werkes ausmachen. In den Augen der Öffentlichkeit blieb sie jedoch eine trübe und manipulative Frau, während sie für Pierrette eine Frau war, die sich geopfert hatte, damit Pierre sein Werk vollenden konnte. Sie erzählte mir auch, dass Marthe Malerin gewesen war und zeigte mir eines ihrer Bilder. Ich war erstaunt über die Verwandtschaft mit Seraphine.

bonnardpierreetmarthe.6Pierre und Misia in seinem Freundeskreis

Weitere Erfahrungen

Eine neue, tragisch endende Beziehung bahnt sich an zwischen Marthe und Renée Montchaty, einer Studentin, die Bonnards Bilder liebt und sich in Pierre verliebt. Eine neue Rivalität ist programmiert. Während sie mit Pierre in Rom klassische Kunst schaut und sie ein Paar werden, ist Marthe auf sich und die Malerei zurückgeworfen. Doch sie findet Halt und Sinn.

Da Renée sich umbringt, fühlt Pierre sich schuldig. Malend geniesst er das Leben, während sie untergeht. Ab jetzt wünschten sich Pierre und Marthe, dass man «sie beerdige», weil sie nicht nochmals den Tod eines anderen erleben möchten. Alter und Tod werden Teil der Geschichte. Erst in einem späten Bild sind die beiden Frauen beisammen.

«Bonnard, Pierre et Marthe» ist wirklich mehr als ein Biopic! Martin Provost hat auch mit seinen früheren Werken mehr als kleine hübsche Liebesfilme gedreht, sondern – wie jede grosse Kunst – Filme, die das ganze Leben meinen. Im neuen Film unterstützt mit dezenter Musik von Michael Galasso und der mitreissenden Kamera von Guillaume Schiffman. Vielleicht kann man den Film zusammenfassen als Gleichnis über die Zweiheit und die Dreiheit als Schicksal aller menschlichen Beziehungen, hier in der Welt der Kunst.

bonnardpierreetmarthe.4An der Seine

Martin Provost zu seinem Film

Über den Stoff hinaus erzählt der Film von der Liebe, die viele Schicksalsschläge übersteht und nicht erlischt: Ich hatte damals den Wunsch, mein eigenes Leben besser zu verstehen. Zunächst stark und hart wie ein Diamant, wird Marthe mit der Zeit zerbrechlich wie Glas. Pierre, der zu Beginn ihrer Beziehung voll und ganz am künstlerischen Treiben seiner Zeit teilnimmt, freiheitsliebend ist und mit der Liebe experimentiert, scheint, als er sich nach und nach mit ihr in einer ganz seinem Werk gewidmeten Isolation einschliesst, von einem kreativen Fieber zerfressen zu werden, das unter der Oberfläche aus Schuldgefühlen und gewalttätigen Impulsen besteht. Ich habe mich dafür entschieden, den Film in diesem Raum anzusiedeln, in der geheimen Transformation eines Paares.

bonnardpierreetmarthe.7Marthe und Renée

Anmerkungen

Indem Martin Provost in die Geschichte des Paares Bonnard seine eigene Befindlichkeit einbezieht, wird seine Auseinandersetzung mit der Kunst zur Auseinandersetzung mit dem Leben. Frühere Filme von Martin Provost zeigen, wie er seine Themen meist ähnlich behandelt.

So «Violette» von 2013. Verkannt und ungeliebt, ungewollt und missbraucht, erlebt sich Violette Leduc zeitlebens. Sie überlebt in der Scheinehe mit einem schwulen Mann in ärmlichen Verhältnissen. Dann zieht sie nach Paris und lernt die charismatische Simone de Beauvoir kennen. Die Begegnung mit ihr motiviert sie, die Traumata ihrer Jugend zu Papier zu bringen, sie wird Schriftstellerin.

2020 drehte Provost «La bonne épouse», wo nach der erfolgreichen Zukunft einer jungen Frau in den 1960er-Jahren gefragt wird. Paulette Van der Beck kennt dies: Zusammen mit einem Team führt sie ein Internat im idyllischen Elsass in der grossen Zeit der Hauswirtschaftsschulen und der daraus spriessenden Ideologie für die Jugend, bis diese 1968 abrupt zusammenbricht.

Für Zuschauer:innen, die selten in Museen gehen, folglich die Bilder von Pierre und Marthe Bonnard kaum kennen, empfiehlt es sich, im Internet darnach zu suchen, besser noch, in Museen nach Bonnard zu fragen oder aktuell die grossartige Ausstellung «1874» über die Geburt des Impressionismus im Musée d’Orsay in Paris zu besuchen.

Im Anhang leuchten fünf ausführliche, hoch interessante Interviews mit Mitwirkenden die Hintergründe dieser Produktion aus.

Gespräche zum Film «Bonnard, Pierre et Marthe»

Titelbild: Pierre Bonnard und Marthe

Regie: Martin Provost, Produktion: 2023, Länge, 122 min, Verleih: Frenetic

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