1 KommentarWas von uns bleibt - Seniorweb Schweiz

Was von uns bleibt

Zum Saisonstart zeigt das Theater Effingerstrasse in Bern ein beklemmendes Stück über Erinnerung und Vergessen. Die Schweizer Erstaufführung von «Marjorie Prime» des US-amerikanischen Autors Jordan Harrison beschäftigt sich mit der Frage, was bleibt, wenn wir einmal nicht mehr sind. Sowie mit den Chancen und Risiken der Künstlichen Intelligenz (KI).

«Die Erinnerung an einen Menschen geht nie verloren, wenn man ihn im Herzen behält», lautet ein in Todesanzeigen oft abgedruckter Trauerspruch. Doch woran soll man sich erinnern, wenn eine nahestehende Person von uns gegangen ist? An Jahrestage, gemeinsame Ereignisse oder Charakterzüge? An Überraschungsmomente, Geheimnisse oder grosse Gefühle? Helfen schöne Erinnerungen bei der Trauerarbeit? Was ist mit den schlechten Erinnerungen? Soll man sie ausblenden oder tabuisieren?

Diese und weitere Themen ziehen sich durch das 2014 uraufgeführte Theaterstück, das 2017 auch verfilmt wurde. Einfach ist der Plot: Die weit über achtzigjährige Marjorie leidet an Demenz und Arthritis. Um die Erinnerungswelt ihrer Mutter vor dem Vergessen zu retten, hat sich Tochter Tess für die Anschaffung eines KI-gesteuerten Ebenbildes ihres Vaters entschieden, einen sogenannten «Prime».

Walter starb vor über zehn Jahren und hinterliess in der Familie eine grosse Lücke. Witwe Marjorie hat sich für die junge Version ihres verblichenen Ehemanns entschieden, der zum Zeitpunkt ihres ersten Verliebtseins erst dreissig Jahre alt war.

Marjorie (Heidi Maria Glössner) und «Prime» Walter (Tim Borys ).

Nun prallen zwei Generationen aufeinander, die einmal ein Ehepaar waren. Aufgabe des Jung-Roboters ist es, bei der gebrechlichen Marjorie Erinnerungen frisch zu halten, sie an Geschehnisse aus ihrem Leben zu erinnern, Trost zu spenden und ihr die Trauerarbeit zu erleichtern.

Trotz der fortschrittlichen Technologie, die im KI-gesteuerten Walter steckt, ist der «Prime» unvollkommen. Er kann lediglich die grundsätzlichen Eigenschaften des Verstorbenen darstellen, mit denen er programmiert wurde, und ist damit nur so gut, wie die Erinnerungen der Familie an Walter.

Gefühle kennt der «Prime» nicht. Auf eine Liebeserklärung der gebrechlichen Marjorie reagiert er ohne Emotionen, sachlich. Auch begrifflich ist er nicht auf dem neusten Stand: Als vom Heiratsantrag die Rede ist, benutzt er den Begriff «Hochzeitsantrag» und wird korrigiert. Den Ausdruck «Tier-Rettungs-Haus» im Zusammenhang mit dem Familienhund ersetzt er im zweiten Anlauf mit «Tierheim». Wie in der realen digitalen Gegenwart ist der intelligente Roboter nämlich in der Lage, laufend zu lernen, seine Sprache und sein Wissen maschinell zu erweitern.

Jon (links: Wowo Habdank) und seine Frau Tess (Kornelia Lüdorf) sind sich uneinig.

Tess, die sich gemeinsam mit Ehemann Jon rührend um ihre weisshaarige Mutter kümmert, ist nicht davon begeistert, dass nun ihr KI-verjüngter Vater in der Wohnung auftaucht. Kein Wunder, auch ihre Erinnerungen sind lückenhaft und widersprüchlich. Ausserdem gibt es da Familiengeheimnisse, die man lieber nicht ausplaudert oder gar dem «Prime» zur Speicherung anvertraut. So spricht niemand gerne über den Suizid von Sohn Damian, ein ebenso trauriges wie einschneidendes Ereignis.

Die Dialoge werden immer grotesker. Während Tess zu verzweifeln scheint, hat sich Jon mit der neuen Technologie angefreundet, ist anfänglich sogar begeistert und füttert den verjüngten Schwiegervater mit immer neuem Wissen. Brisant wird die Situation allerdings, als der Name Jean-Paul fällt: Der Mann hatte vor vielen Jahren mit Avancen Marjories Gefühle geweckt. Darf man sich daran noch erinnern? Soll der «Prime» von seinem Nebenbuhler erfahren?

Als Marjorie stirbt, erscheint auch sie der Familie als «Prime». Tess ist desorientiert. Angesichts der Verwirrtheit seiner Frau erfassen die emotionalen Turbulenzen nun auch Jon. Er kämpft um Tess, um das Menschliche, um ihre gemeinsame Gefühlswelt. Mit Pillen und Drinks reagiert er auf die vertrackte Familiensituation. Bis auch seine Gattin als «Prime» erscheint. Nun ist Jon der einzige überlebende Mensch zwischen menschenähnlichen Robotern.

Tess im Gespräch mit ihrer Mutter, «Prime» Marjorie, während im Hintergrund «Prime» Walter zuhört und lernt.

Die dystopische Entwicklung des Dramas (Regie: Jochen Strodthoff) wird unterstützt durch ein futuristisches Bühnenbild und passende Kostüme (Ausstattung: Angela Loewen), die an «Star Trek» erinnern. In einem gelb-grünen Wohnzimmer, das mehrfach die Farbe wechselt, blickt man wie durch einen Tunnel zum Ausgang, in dem weit hinten ein grelles Licht leuchtet: Ist das der Blick in unsere digitale Zukunft? Werden wir eines Tages alle durch «Primes» ersetzt?

Mit ihrem differenzierten Spiel führen uns Tim Borys (Walter), Heidi Maria Glössner (Marjorie), Wowo Habdank (Jon) und Kornelia Lüdorf (Tess) auf beklemmende Art und Weise vor Augen, wie KI unser Leben bestimmen könnte. Die Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine wird zur Herausforderung. Wären da nicht die monotone Stimme, das graue Kostüm, der roboterähnliche Gang, die fehlenden Gefühle und Spontanität: Man sähe sich nicht mehr in der Lage, die neuen «Primes» von den alten Menschen aus Fleisch und Blut zu unterscheiden.

Wollen wir das? Ist das an der Effingerstrasse gezeigte Szenario noch aufzuhalten? Möchten wir nach dem Tod unseren Lieben als «Primes» erhalten bleiben? – Noch könnten Wissenschaft, Politik und Gesellschaft die Entwicklung steuern.

Einen zweiten Gedankenanstoss enthält das Stück: «Primes» mögen technisch noch so perfekt programmiert sein: Wir Menschen sind und bleiben unperfekt. Wir altern, zeigen Gedächtnislücken, werden krank und sterben. Und wir verhalten uns im Laufe unseres Lebens nicht immer gradlinig. «Wie sind Menschen»? fragt Tess ihre Mutter Marjorie. «Unberechenbar» lautet deren ehrliche Antwort.

Werden wir in Zukunft alle zu «Primes» programmiert?

Erinnern oder vergessen? Tröstende Sprüche über Erinnerungen mögen in der Trauer über Verluste hinweghelfen. Sie zu hinterfragen, wäre Aufgabe einer nachhaltigen Trauerarbeit. Vielleicht sollten wir – angesichts der KI-Potentiale – unsere Erinnerungskultur generell überdenken. Dann wären wir vielleicht in der Lage, selbst zu entscheiden, ob und allenfalls was von uns bleibt, wenn wir einmal nicht mehr sind.

«Marjorie Prime»: Bis 20. September 2024 am Theater Effingerstrasse.

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Das Theater an der Effingerstrasse Bern

Titelbild: Jon (Wowo Habdank) zeigt Verständnis für die Gedächtnislücken seiner Schwiegermutter (Heidi Maria Glössner) und versucht ihr zu helfen. Alle Fotos: Severin Novacki.

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1 Kommentar

  1. Die Thematik des Theaterstücks, was bleibt wenn wir nicht mehr da sind und, welche Erinnerungen sind wie und ob überhaupt erinnerungswürdig, erschliesst sich mir nicht. Wir alle hinterlassen unsere Spuren und prägen mehr oder weniger stark die Welt von morgen und das Leben der nächsten Generationen. Trauer über Verstorbene ist bei den meisten Hinterbliebenen genau so natürlich wie die Freude über die Geburt eines Kindes. Die Vision des Theaterstücks, einen ehemals lebendigen Menschen in seiner Ganzheit durch einen künstlichen Doppelgänger ersetzen zu wollen, halte ich in der dargestellten Form für völlig absurd und ohne jede Sinnhaftigkeit.

    Ganz anders im Spielfilm «Ich bin dein Mensch». Eine glaubwürdige, feinsinnige und äusserst spannende Liebesgeschichte zwischen einer echten Frau und einem humanoiden Roboter, einer hochentwickelten Maschine in Menschengestalt, die als Experiment einer Studie einzig dafür geschaffen wurde, um die Frau glücklich zu machen. Der Spielfilm ist erstmals 2021 ins Kino gekommen, Maria Schrader hat Regie geführt und in den Hauptrollen von Schauspieler:in Maren Eggert und Dan Stevens fantastisch verkörpert.

    Obwohl auch diese Geschichte durchaus Momente des Schauderns hat, überwiegt die Botschaft, dass künstliche Intelligenz nur das ist, was der Mensch daraus machen will und das kann durchaus etwas Positives sein. Doch niemals wird KI einen Menschen in seiner ganzen Komplexität abbilden und ersetzen, ausser – der Mensch schafft sich selber zugunsten einer Maschine ab.

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