Welche Erinnerungen haben wir an unsere Grosseltern? Was haben sie uns mitgegeben? Was haben sie verschwiegen? Waren sie Vorbilder? Haben sie uns Geborgenheit geschenkt? Was liegt im Dunkeln? Solche Fragen drängen sich auf bei der Lektüre des Buches «Fragen hätte ich noch».
Seit 6. September 2024 ist ein Buch im Handel, das gar nicht als Buch geplant war. Denn der Herausgeber, Wolfram Schneider-Lastin, wollte im Corona-Lockdown bloss die Geschichte seiner süddeutschen Grossväter erkunden, insbesondere ihre Zeit im Nationalsozialismus. Adressaten sollten die Verwandten sein. Als er den Text über seinen Grossvater mütterlicherseits Nahestehenden zeigte, reagierten diese betroffen und begannen ihrerseits, über ihre Grosseltern zu erzählen. Schneider-Lastin schreibt im Vorwort: «Da geschah etwas völlig Unerwartetes. Der Text wirkte bei den Adressatinnen und Adressaten wie ein Auslöser, sich ihrerseits zu erinnern, und sie erzählten mir, unaufgefordert und spontan, von ihren eigenen Grossvätern und Grossmüttern.»
Ergebnis: Das Buch «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern» umfasst 30 Texte von erzählenden Enkelkindern über ihre Grosseltern. Die Autorinnen und Autoren kommen aus der Schweiz, Deutschland oder Österreich. Schneider-Lastin «fragte gezielt Schriftstellerinnen und Schriftsteller, aber auch Menschen aus anderen Berufen an, ob sie sich an diesem Projekt beteiligen wollten – und die meisten haben begeistert zugesagt.» Die Vorgabe des Herausgebers der Geschichten war: Maximal 15 000 Zeichen mit Leerzeichen.
An der Buchvernissage lasen drei der dreissig Autoren.
Als in der ersten Gymnasialklasse der Mathematik- und Klassenlehrer fragte, wer denn ihr Vorbild sei, schrieb Romana Ganzoni im Unterschied zu vielen andern, die «Pop-Idole und Schauspielerinnen angaben», mit dickem Filzstift «Mein Neni».
Romana Ganzoni, geboren 1967 in Scuol, studierte an der Uni Zürich Geschichte und Germanistik, unterrichtete 20 Jahre an Gymnasien in Zürich und im Engadin. Literarische Publikationen ab 2013.
Hier eine kleine Episode aus dem Text: «Wir setzten uns. Der Neni hatte einen Stecken für mich aufgelesen, den er vor meinen Augen mit geometrischen Mustern beschnitzte. Sein Großvater-Bart war salz-und-pfefferfarben und so lang, dass ich damit einen Zopf flechten konnte, nur ich durfte das. Wir sprachen über Schneckenhäuser, und der Duft der frischen Rinde vermischte sich mit dem Geruch des geräucherten Stoffs seines Tschopens. An diesem Tag trug er darunter kein Gilet, sondern eine graue Jacke mit Reißverschluss, er sah zufrieden aus, er war zufrieden mit sich, mit mir sowieso.»
Hanspeter Müller-Drossaart hat seinen Grossvater nie gekannt und schliesst seinen Text so:
Hanspeter Müller-Drossaart, geboren 1955 in Sarnen, studierte Schauspiel und Theaterpädagogik an der Schauspiel-Akademie Zürich und war Ensemble-Mitglied beim Theater am Neumarkt, am Schauspielhaus Zürich und am Wiener Burgtheater. Seit 2004 freischaffender Schauspieler, vor allem in Kino- und Fernsehfilmen.
«wer warst Du
wie warst Du
was trage ich von Dir in mir
wie habt Ihr gelebt Du und Großmutter
wie war sie
Ich stell es mir vor Du hebst mich neben Dich
auf den Bock legst mir eine streng riechende
Pferdedecke um die Schultern und wir reisen
zusammen mit Ross und Wagen hü Myli hü
Stella hinaus in die weite Welt Du sagst kein
Wort ich sag kein Wort wir schweigen unter
uns das laute Knirschen der eisenbereiften
Räder auf dem Schotter des Karrwegs und ich
denke das ist er jetzt mein Großvater ich stell es mir vor
Fragen hätte ich noch …»
Wolfram Schneider-Lastin bewunderte seinen Grossvater Jakob, den die Familie Kobus nannte. Kobus wurde 1894 als uneheliches Kind in einem Allgäuer Bauernhof geboren, ein schwieriger Start ins Leben.
Dem «blutigen Gemetzel» des ersten Weltkriegs wollte der Junge entkommen, «ohne gleich als Vaterlandsverräter oder Deserteur gebrandmarkt zu werden. Da erfuhr er per Zufall,
Wolfram Schneider-Lastin, geboren 1951 in Schwäbisch Gmünd, studierte Schauspiel, Germanistik, Geschichte, Altphilologie und Kunstgeschichte an den Hochschulen Stuttgart, Tübingen, Wien und Rom. Seit 1988 lebt er in der Schweiz als Wissenschaftler und Schauspieler.
dass im Offizierkasino ein Koch gesucht wurde. (…) Gefragt, welche Gerichte er beherrsche, zählte er die ganze Vielfalt auf, die bei seiner Mutter auf dem Speiseplan stand. Und als er probe- kochen musste, gerieten ihm die Fleischsuppe mit Knöpfle, die Rindsrouladen und die Bananenrolle tatsächlich so vorzüglich, dass er vom Fleck weg engagiert wurde.»
Wie der unangepasste Kobus den zweiten Weltkrieg und die Zeit danach erlebte und wie dies auf den Enkel wirkte, können Sie im Buch nachlesen.
Die dreissig Texte lassen die Leserschaft teilhaben an innigen, teilweise schwierigen Enkel-Grosseltern-Beziehungen. Familiäre Auswirkungen und Verarbeitungsweisen von politischen Umständen und sozialen Rahmenbedingungen werden konkret geschildert und sind emotional nachvollziehbar.
Was haben unsere Grosseltern uns gegeben und vorenthalten? Wie bleiben sie uns … und wie bleiben wir wohl unseren Enkelinnen und Enkeln in Erinnerung?
Buch: Wolfram Schneider-Lastin (Hg.), Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern. Zürich 2024. ISBN 978-3-03973-039-1
Titelbild: An der Buchvernissage in der Orell Füssli Buchhandlung am Bellevue in Zürich. Von links: Manfred Papst (Moderator), Wolfram Schneider-Lastin, Romana Ganzoni, Hanspeter Müller-Drossaart. Alle Fotos: bs
Ganz spannender und wertvoller Beitrag! Danke!
Ich habe viele Erinnerungen an meine Grosseltern. Das schönste ist: ich habe ihre Möbel geerbt und sie begleiten mich jeden Tag.
Ich kannte nur meine Grossmutter väterlicherseits, Sie wohnte noch im Hause, wo eine Tante mit Familie auch noch wohnte. Sie hatte 5 eigene Kinder und nahm 2 Kinder ihrer Schwester auf, als diese frühzeitig starb. Ich sah sie viel waschen, si war klein und hatte immer ein Kopftuch auf. Der Grossvater liebte sie so, dass er bis in den Keller folgte, wenn sie nicht in der Küche war, erzählte man mir später. Ich hätte ihn gerne kennen gelernt, leider verstarb er an einem Unfall.
Ich bin selbst Grossvater und werde jetzt 100 Jahre alt. Meine Nachkommen haben sich für meine Lebenserinnerungen bisher nicht interessiert. Um sie aber der Nachwelt zu erhalten, habe ich sie aufgeschrieben und bei «meet my life» hinterlegt. Dort können alle Interessenten daran Anteil nehmen.