Der in Sempach LU geborene Künstler Ian Anüll (76) trieb sich überall in der Welt herum, liess sich inspirieren und machte aus dem Gefundenen Kunststücke, die er nun im Luzerner Kunstmuseum ausstellt.
Er war in Paris, Berlin, Barcelona, London und Genf. Er liess sich inspirieren von den Bauten, ihren Graffiti, von weggeworfenen Dingen und schlecht behandelten Menschen.
«Help!» Der Hilferuf erklingt, während das Publikum ins tiefe Blau von Ian Anülls Ausstellung London Blue eintaucht. Die Girlgroup Bananarama nimmt den berühmten Beatles-Song gemeinsam mit dem komödiantischen Musikprojekt Lananeeneenoonoo auf, um die Wohltätigkeitsorganisation Comic Relief zu unterstützen und spielt damit viel Geld ein.
Ian Anüll, Dada by Boris, 2021
Der Künstler stöbert die Single während seines Atelieraufenthalts 2021 in London in einem Plattenladen auf. Ian Anüll flaniert gedanklich und real. Unterwegs in der Metropole entdeckt er als aufmerksamer Beobachter Strandgut aus Natur und Zivilisation, Objekte und kuriose Aperçus: Muscheln, Steine, Plastiklöffel, künstliche Wimpern und immer wieder Zeitungsberichte.
Das Zusammentreffen von Objekten, Bildern und Textfragmenten löst beim Künstler einen Geistesblitz aus, worauf er die Fundstücke meist mit minimalen Interventionen in ein Kunstwerk verwandelt.
Aus der Serie ohne Titel (London Blue), 2021 Media auf Leinwand
Schon am ersten Abend seines Aufenthalts in London findet Ian Anüll ein mit weissem Plastik bespanntes Brett. Später notiert er im Atelier die sechs Lotto-Gewinnzahlen des Tages auf das Fundstück und schafft damit das erste Objekt der Serie 6 Richtige.
Uniform (Shoes), 2021, Schuhe, Karton, Acryl
So verknüpft Ian Anüll mit leichter Hand Gewinn, Chance, Magie, Spiel und die Verlockung des Hauptpreises, der doch meist Illusion bleibt. Ein paar Tage später leuchtet dem Künstler aus einer Bau-Mulde eine blaue Kachel entgegen.
K. Moss Lagerfeld, 2021, Acryl auf Leinwand
Aus diesem Fund entwickelt sich eine Recherche, spriessen unzählige Gedanken, Ideen, Zusammenhänge, Fortsetzungen, entsteht eine vielteilige Werkserie. Im Farbgeschäft erfährt Ian Anüll, dass es sich bei dem Farbton um Paris-Preussisch-Blau handelt.
Die Geschichte dieser Farbe beschäftigt Ian Anüll ebenso wie ihre Bedeutung. 1706 wird das Berliner Blau – so der gebräuchlichste Name heute – zufällig erfunden. Die Erfindung wird dem Schweizer Johann Jacob Diesbach zugeschrieben, der als Hersteller von Farbstoffen und Pig-menten in Berlin arbeitet und wie viele Chemiker und Apotheker seiner Zeit alchemistische Versuche zur Goldherstellung unternimmt.
Je nach Produktionsstandort erhält der Farbstoff verschiedene Namen, wobei sich «preussisch» möglicherweise auf die blauen Uniformen der Preussen bezieht. Medizinisch wird das Berliner Blau zur Behandlung von Cäsium-Vergiftungen eingesetzt. Ian Anüll verbindet diese verschiedenen Informationen zur Farbe und assoziiert sie weiter. Alchemie, Verwandlung, Uniform oder japanische Holzschnitte mit Preussisch-Blau sind nur einige der Aspekte, die Ian Anüll inspirieren.
Als er in einem Geschäft Leinwände in der Grösse der Kachel findet, collagiert er darauf Fotografien, Zeitungsausschnitte und Objekte. Die blaue Farbe verbindet diese tagebuchartige Serie und weitere Werke, die in London entstehen. Dabei kombiniert Ian Anüll die vielfältigen Fundstücke ebenso lustvoll wie analytisch zu pointierten Kommentaren zum Zeitgeschehen. In den Fokus nimmt er die Mächtigen, beispielsweise Wladimir Putin oder Boris Johnson, gesellschaftliche Phänomene, Schönheitswahn, Religion, den Umgang der britischen Regierung mit der Pandemie, die Auswüchse des Kapitalismus oder des Kunstmarkts.
Die von Eveline Suter kuratierte Ausstellung dauert bis 24. November2024
Titelbild: Ian Anüll in der Ausstellung
Fotos: Josef Ritler
Toller Artikel. Einzig schade, dass Josef Ritler die Bilder jeweils beliebig in den Text einstreut. Das schmälert in meinen Augen den Informationswert.