Beim Berliner Musikfest 2024 war Jordi Savall mit seinem Projekt zum Sklavenhandel ein notwendiges und herausragendes Ereignis. Mithilfe der universellen Sprache der Musik erinnerte das Konzert an eine menschliche Tragödie.
Aufwühlend und zugleich ein afrokubanisches Fest war Savalls Projekt Un mar de músicas, das der Schauspieler Bless Amada moderierte. Er las Texte von 1440 bis 1880, die einen an unmenschliche Gesetze erinnern oder Beschreibungen grausamer Vorfälle enthalten, aber zuletzt etwas versöhnlich in die Abschaffung der Sklaverei mündeten. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass es bis heute Sklavinnen gibt ‒ erinnert sei an den Prozess gegen den Hinduja-Clan in Genf wegen Ausbeutung einer Hausangestellten.
Eindrückliche Geschichtslektion zum Sklavenhandel: «Un mar de músicas». Foto © Fabian Schellhorn
Die Musik, dargeboten von Savalls Ensembles und Interpreten aus der Karibik, Brasilien, Afrika und Kanada, war einigen zuviel der Weltmusik, anderen die genau richtige Hommage an 25 Millionen Menschen, die in vier Jahrhunderten Opfer des Kolonialismus geworden waren. Bewegend die Klagelieder, die Protestsongs oder die Kirchenmusik, die einst von verschleppten Afrikanern geschaffen worden war. Savall zeigte am Beispiel der Chaconne und Jean-Philippe Rameaus auch, wie sich die Musik der Schwarzen mit der europäischen vermischt hat.
Szenenbild aus dem Jordi-Savall-Projekt zum Sklavenhandel: Den Menschen blieb nichts ausser ihre Musik, die uns weltweit bereichert. Foto: © Fabian Schellhorn
Dank Spitzenorchestern und herausragenden Solistinnen wie Isabelle Faust, Violine, oder Anna Prohaska, Sopran, die engagiert und lustvoll jeder Musik Flügel verleihen, lassen wir uns auch auf schwierige zeitgenössische Kompositionen ein und verstehen intuitiv komplexe Werke.
Die Mezzosopranistin Fleur Barron ist für eine erkrankte Kollegin eingesprungen. Das Rundfunk Sinfonieorchester mit Vladimir Jurowsky am Pult war – wie das Auditorium glücklich damit. Foto: © Peter Meisel
Zum Beispiel John Adams′ Harmonielehre, gross orchestrierte Minimal Music von 1984, interpretiert vom Rundfunk Sinfonieorchester Berlin, das damit sein 30jähriges Bestehen feiert. Der begeisternden Interpretation mit Vladimir Jurowsky am Pult gingen von Fleur Barron gesungene Lieder Schönbergs und Brahms Tragische Ouvertüre voraus, ein ideal programmierter Abend.
Bei der Probe: Klaus Mäkelä, der junge finnische Stardirigent. Foto © Fabian Schellhorn
Mit dem Oslo Philharmonic und Klaus Mäkelä wird Schostakowitschs 5. Sinfonie als ein Leben voller Ängste vor Stalin und seinem Regime lesbar. Um die Herrschenden zufriedenzustellen, schrieb der Komponist nach dem Skandal um die Oper Lady Macbeth von Mzensk ein Werk mit rassiger Marschmusik sowie Bläserkaskaden, welches genehm war. Dass es ‒ gebrochen mit Ironie und Trauer ‒ ein Ausdruck von Schostakowitschs Selbstbehauptung war, wurde damals ignoriert.
Der erst 28jährige Mäkelä wird seinem Ruf als bester Orchesterleiter seiner Generation absolut gerecht: Er führte seine Musiker sehr klar, liess ihnen auch Freiheiten, um sie sogleich wieder mit kleinen Gesten zu unterstützen.
Transatlantisches war bei den Osloern nicht im Programm. Dafür neben der Schostakowitsch-Sinfonie zweimal Finnland, eine Hommage an die vor Jahresfrist verstorbene Kajia Saariaho mit der Aufführung von Vista, das sie 2019 komponiert hat, und dem Cantus Arcticus von Einojuhani Rautaavara, ein Stück bei dem sich Vogelstimmen ‒ aufgenommen im hohen Norden ‒ mit Orchestermusik verbinden.
Susanna Mälkki zählt zu den international besten: Sie stand am Pult der Staatskapelle Berlin, einem der grossartigen Berliner Orchester. Foto: © Peter Adamik
Nochmals Kaija Saariaho und Dirigat aus Finnland gab es mit der Staatskapelle Berlin unter der Leitung von Susanna Mälkki. Saariaho hat HUSH kurz vor ihrem Tod geschrieben, Mälkki sorgte nun für die deutsche Erstaufführung des Konzerts für Trompete und Orchester. Verneri Pohjola solierte brillant und einfühlsam in dem für ihn komponierten Stück, es war einfach noch ein Höhepunkt dieses an grossartigen Ereignissen reichen Musikfests.
Anna Prohaska singt Charles-Ives-Lieder mit dem Mahler Chamber Orchestra…
Pierre-Laurent Aimard spielte bei seinem Soloabend sämtliche Klavierstücke von Arnold Schönberg aus den Jahren 1909 bis 1931 und Charles Ives′ Sonate Concord, Mass, 1840-1860. Beide Komponisten sind im Jahr 1874 geboren. Und beide hatten das Ziel, die bekannte Musik neu zu erfinden. Ein so instruktives wie geniales Klavierrezital.
… und im intimen Rezital begleitet vom Pianisten Pierre-Laurent Aimard. Fotos © Fabian Schellhorn
Das Lied-Rezital mit Aimard und Anna Prohaska, einer Sopranistin, die einfach alles kann, gab einen stimmigen Eindruck von Charles Ives′ Songs, die sie wohl so sang, wie er es sich gewünscht hätte, nämlich schlank wie eine Instrumentalstimme. Im Konzert des Mahler Chamber Orchestra mit Liedern von Gustav Mahler und Charles Ives brillierte Prohaska erneut.
Dieses Orchester geht auf eine Gründung von Claudio Abbado zurück und versammelt Instrumentalistinnen aus aller Welt, darunter mit der Bratschistin Lia Previtali und dem Hornisten Lionel Pointet zwei aus der Schweiz. Auf Augenhöhe sollen Musiker und Dirigent kommunizieren, war Abbados Credo, was er damit wollte, ist auch mit Antonello Manacorda zu hören. So wurde die sonst eher füllig daherbrausende Sinfonie Aus der Neuen Welt von Antonin Dvořak ein transparentes und eindrückliches Klangbild.
Lester Lynch ist der ideale Sänger, wenn Zemlinskys Gesänge über Sklaverei- und Elendsgeschichten der Schwarzen in Nordamerika aufgeführt werden. Foto © Fabian Schellhorn
Ein Komponist der Alten Welt, der sich um die Neue bemühte, war Alexander von Zemlinksky. Aufgeführt wurden die Symphonischen Gesängen op. 20 (1929) nach unter die Haut gehenden Gedichten von schwarzen Autoren zur Sklaverei. Mit dem Bariton Lester Lynch hat das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks den idealen Interpreten gefunden. Für dessen jetzigen Chef, Sir Simon Rattle, einer der Gründer der nun 20jährigen Berliner Musiktage, ist ein Konzert in der Philharmonie — das er diesmal mit Mahlers Sechster krönte, die so interpretiert niemanden kalt liess — ein Heimspiel.
Der mit einer Standing Ovation gefeierte Tenor Julian Prégardien erfreute das Publikum mit der Zugabe eines kleinen solo gesungenen Volkslieds. Foto © Fabian Schellhorn
Julian Prégardien sang Gustav Mahlers bekannte Lieder eines fahrenden Gesellen und Maurice Ravels selten gehörte Cinq mélodies populaires grecques, begleitet vom Deutschen Symphonie-Orchester Berlin. Nach der Pause ging es mit Charles Ives und Aaron Copland in die USA. Beide suchten den neuen, uramerikanischen Sound. Während Ives für die Schublade schrieb, ging es Copland auf der Basis der europäischen Spätromantik um eingängige Melodien für alle. Ives dagegen war ein radikaler Modernist, der als Aussenseiter erst spät entdeckt wurde, die amerikanische Musik aber entscheidend beeinflusst hat.
Zwei Konzerte der Berliner Philharmoniker wurden zum Requiem: Peter Eötvös (1944-2024) hätte Cziffra Psodia, seine Hommage an den grossen Pianisten György Cziffra, eigentlich selbst dirigieren wollen. Nach seinem unerwarteten Tod sprang Jonathan Nott ein. Der Komponist Wolfgang Rihm (1952-2024), dessen für den Markusdom in Venedig geschaffenes Raumklang-Werk IN-SCHRIFT, programmiert zusammen mit der 5. Sinfonie von Anton Bruckner, ebenfalls eine Klangskulptur, ist erst in diesem Sommer gestorben. Der innovative Musiker, als Förderer hochgeschätzt, konnte sein Amt als Composer in Residence bei den Philharmonikern nicht mehr antreten.
Mehr Musiker und Sänger finden auf der Bühne der Philharmonie kaum Platz, aber für die 4. Sinfonie von Charles Ives, der sein Stück selbst nie vollständig gehört hat, ist es gerade richtig. Foto © Fabian Schellhorn
Das Berliner Spitzenorchester machte den Musikfest-Besuchern mit Charles Ives′ 4. Sinfonie ein rares Geschenk: Bei dem Werk in gigantischer Besetzung mit räumlich verteilten Ensemblegruppen und zwei kollaborativ arbeitenden Dirigenten sind die musikalischen Ziele dieses Pioniers der Neuen Musik wohl am dichtesten verwirklicht: Verrückte Collagen von Melodien, Rhythmen und Metren verweben sich übereinandergeschichtet in einer überwältigenden Klangorgie, die sich immer wieder neu formiert, in sinnlich-einfache Chorpassagen oder witzige Schlagzeug-Dialoge und ein Minimal-Music andeutendes Geigensolo fliessend. Ives hat vieles vorweggenommen, was die Moderne seither prägt. Das bleibt als Eindruck vom diesjährigen Musikfest.
Titelbild: Vladimir Jurowski dirigiert das Rundfunksinfonieorchester Berlin zur Saisoneröffnung. Foto: © Peter Meisel
Hier geht es zum ersten Beitrag auf Seniorweb über das Musikfest Berlin 2024
Einige Konzerte gibt es zum Nachhören in der Mediathek.