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Menschsein am Rande

Die Ausstellung «Alles sehen» im Aargauer Kunsthaus rückt Johannes Robert Schürch, einen in Vergessenheit geratenen Zeichner der frühen Moderne, in die Gegenwart. Auf den rund 130 lavierten Tuschzeichnungen und expressiven Aquarellen begegnen uns Menschen in ihrem existentiellen Menschsein.

Johannes Robert Schürch (1895-1941) gilt als Hauptvertreter der frühen Moderne in der Schweizer Kunst. Umso erstaunlicher ist es, dass sein Werk heute kaum bekannt ist. Der Künstler hinterliess bei seinem Tod im Alter von nur 46 Jahren ein umfangreiches und stilistisch vielfältiges Oeuvre, das über 7000 Arbeiten umfasst. Obwohl er an Ausstellungen teilnahm, erlangte er zu Lebzeiten keine breite öffentliche Anerkennung. Die Einzelausstellung im Aargauer Kunsthaus widmet sich dem zeichnerischen Werk der 1920er und frühen 1930er Jahre, Schürchs produktivster Schaffensperiode.

«Selbstbildnis mit Pfeife», 1928 und «Bildnis der Mutter», um 1922. Nach dem Tod seines Vaters und seiner zwei Schwestern 1907 lebte Schürch hauptsächlich bei seiner Mutter. Er fühlte sich ihr verbunden und porträtierte sie öfter.

Der 1895 in Aarau geborene Künstler besuchte die Ecole des Beaux-Arts in Genf und wurde Ateliergehilfe von Ferdinand Hodler, den er 1918 auf dem Totenbett malte. Wie sein Mentor lernte er den Tod früh kennen. Als Zwölfjähriger verlor er seinen Vater und seine beiden Schwestern. Zwischen 1922 und 1932 wohnte er mit seiner Mutter in einem abgelegenen Waldhaus im Tessin in Armut. Hier arbeitete er geradezu obsessiv und löste sich von seinen Vorbildern Ferdinand Hodler, Pablo Picasso oder Paul Cézanne.

«Landschaft mit See», o.J. Die strukturierenden Elemente auf Schürchs Landschaftsbildern erinnern an die Auseinandersetzung mit Paul Cézanne. Foto: Bündner Kunstmuseum Chur

Im Tessin entstanden Blätter, in denen er Gesehenes und Erlebtes mit seinen inneren Bildern, seinen Ängsten und Visionen verband. Seinem Freund Walter Kern schrieb er: «Meine jetzigen Zeichnungen sind sehr gut und übertreffen vielleicht alles, was ich schon gemacht habe, sie sind auf jeden Fall Eigengewächs.» Sechs Jahre vor seinem Tod lernte er seine Partnerin, die zwanzig Jahre jüngere Erica Leutwyler kennen. Nachdem er 1939 zum Grenzdienst eingezogen wurde, erkrankte er an Tuberkulose und starb 1941 in Ascona.

Ohne Titel, ohne Jahr

Im Zentrum von Schürchs Werk stehen vom Leben gezeichnete Menschen, oft Randexistenzen, denen er sich besonders verbunden fühlte. Schonungslos und einfühlsam thematisierte er existenzielle und universelle Aspekte des Menschseins: Tod und Trauer, Unterdrückung, Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Liebe. Als Schauplätze wählte er städtische Randgebiete, fantastische (Traum-)Landschaften oder zeittypische Szenerien wie Wirtshäuser, Bordelle oder die Welt des Zirkus.

«Zwei Mädchen in der Bar», 1931. Mit lockerem Pinsel und Feder setzt der Künstler zwei Frauen am Tisch dicht nebeneinander, beide den Blick in sich gekehrt. Die Dunkelhaarige, mager, mit Zigarette im von Härte gezeichneten Mund, die Blonde, die Hände unsicher ineinander haltend, Weingläser auf dem Tisch.

In einem seiner zahlreichen Skizzenbücher notierte Schürch ein Zitat von Leonardo da Vinci: «Wo ein grosses Gefühl ist, ist grosse Qual.» Seine spontan und skizzenhaft ausgeführten Zeichnungen berichten davon. Die Farben mit dem Pinsel in Aquarell oder Gouache locker aufgetragen, liegen wie Schatten über den präzisen Linien der Feder- oder Tuschzeichnung. Die Menschen auf den Bildern wirken in sich gekehrt, sind vom Leben gezeichnet, tragen Geschichten in sich, strahlen Schwere und Hoffnungslosigkeit aus. Und doch rühren sie uns an. Knüpfen an eigene Emotionen, die tief in uns verborgen sind. «Ich will nur die Tatsache, verstehst du, so wie die Sache ist, schonungslos, schamlos, die Wahrheit, wenn du willst, ohne das Schreckliche wegzuträumen», schreibt der 28-jährige seinem Freund Walter Kern.

Johannes Robert Schürch, o.J., Fotografie von unbekannt.

Eigentlich erstaunlich, dass das Werk dieses Künstlers seinen Zeitgenossen unbekannt blieb in Anbetracht der expressiven Malerei der Zwischenkriegszeit. Schürch übersetzte die Verletzlichkeit der menschlichen Existenz zeichnerisch, intensiv und radikal. Er wollte zum Wesentlichen vordringen, oft nahe am Abgrund, ohne Rücksicht auf kommerziellen Erfolg. Seine melancholisch anmutenden Zeichnungen in der offen zur Schau gestellten Verletzlichkeit stossen heute auf Resonanz und berühren durch ihre Tiefe und rohe Emotionalität.

Ohne Titel, ohne Jahr. Foto: SIK_ISEA, Zürich

Der Künstler war auch ein leidenschaftlicher Leser. Neben Schriften zur Kulturgeschichte, Kunst, Philosophie und Astrologie interessierte er sich für Lyrik und Literatur. Randexistenzen aus Romanen von Fjodor Dostojewski fanden Eingang in seine Bildwelt. Aber auch die Bibel diente ihm als Inspirationsquelle. Die Schriftstellerin Simone Lappert spiegelt einzelne Bilder mit lyrischen Beiträgen, die über einen QR-Code in der Ausstellung zu hören sind. Die Gedichte unterstreichen die zeitlose Aktualität von Schürchs Zeichnungen.

«Beweinung», 1928. Für dieses Werk fand Simone Lappert stimmige Worte, die über den QR-Code abrufbar und im Katalog abgedruckt sind.

Dass Schürchs Werk heute erhalten ist, verdanken wir seiner Partnerin Erica Ebinger-Leutwyler (1915-2015). Er lernte die junge Frau 1937 kennen und lebte mit ihr bis zu seinem Tod in Ascona. Ihr vermachte er seinen künstlerischen Nachlass, der vom Fiskus als wertlos eingestuft wurde. Sie tätigte diverse Schenkungen an Institutionen, so dass sein Werk mit umfangreichen Beständen in öffentlichen Sammlungen der Schweiz vertreten ist. 2005 gründete sie, 90-jährig, die Erica Ebinger-Leutwyler Stiftung zur Verwaltung und Vermittlung des künstlerischen und schriftlichen Nachlasses.

Blick in die Ausstellung. Werke von Schürchs Zeitgenossen bis zu aktuell tätigen Kunstschaffenden.

Der Ausstellungsundgang endet mit einer grossen Fotografie des Künstlers aus dem Jahr 1941, gezeichnet von seiner Lungenkrankheit, kurz vor seinem Tod. Die angrenzende Sammlungspräsentation zeigt Werke von Schürchs Zeitgenossen und spannt den Bogen bis zu aktuell tätigen Kunstschaffenden.

Titelbild: «Emigranten», 1938. Aargauer Kunsthaus, Aarau. Foto: Brigitt Lattmann
Fotos: rv, wenn nicht anders bezeichnet

Bis 12. Januar 2025
Johannes Robert Schürch, Alles sehen. Ausstellung im Aargauer Kunsthaus, Aarau
Gleichnamige Publikation mit Abbildungen und verschiedenen Essays, Hrsg. Aarau 2024, CHF   49.00

Zu den Gedichten von Simone Lappert

 

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