StartseiteMagazinKolumnenDigitaler Kapitalismus

Digitaler Kapitalismus

Wie freiheitlich ist der digitale Kapitalismus? Was macht er mit uns? Und was bedeutet die Digitalisierung für benachteiligte Bevölkerungsgruppen? Darüber diskutierte ich Ende September im Sissacher Kultur-Bistro Cheesmeyer mit dem Soziologen Oliver Nachtwey und der Historikerin Rachel Huber.

Digitaler Kapitalismus ist für Oliver Nachtwey eine Form des Kapitalismus, die stark durch digitale Technologien und das Internet geprägt ist. Diese Wirtschaftsform nutzt digitale Plattformen, Daten und Netzwerke als zentrale Ressourcen und Mechanismen zur Wertschöpfung und Kapitalakkumulation. Der digitale Kapitalismus verändert dabei nicht nur Produktions- und Konsumprozesse, sondern auch die soziale und ökonomische Struktur der Gesellschaft.

Nachtwey erforscht den digitalen Kapitalismus aus einer Mixed-Method Perspektive. Er hat mit ganz unterschiedlichen Fachleuten gesprochen. Im Silicon Valley, in Zürich und anderswo. Zu seinem Zugang gehören die klassische und digitale Ethnografie, qualitative Interviews sowie Big-Data-Methoden der Textanalyse.

Der digitale Kapitalismus ist allgegenwärtig, so Nachtwey. Beim Buchen des Urlaubs, beim digitalen Zahlen in der Beiz, beim Spazierengehen, wenn das GPS auf dem Natel eingeschaltet ist. Das medizinische Personal verfügt über digitale Akten von Erkrankten. Und Algorithmen kennen unsere heimlichen Wünsche und politischen Vorlieben.

Angehörige marginalisierter und ethnischer Minderheiten nutzen Plattformen sozialer Medien vermehrt, «weil sie Menschen eine Stimme geben, die in den Mainstream-Medien an den Rand gedrängt werden», erklärte Rachel Huber. Soziale Medien bieten allerlei Möglichkeiten und auch so genannten Randgruppen einen Raum, in dem sie sprechen könnten. Für Huber ist Twitter ein Ort, an dem sich öffentliche Diskurse über Rasse, Geschlecht und soziale Gerechtigkeit beeinflussen lassen.

Mehrere soziale Bewegungen von Minderheiten haben ihren Anfang auf diesen Plattformen gefunden. Sie prägen unsere Gesellschaft nachhaltig. Neue Untersuchungen zur Macht von Plattformen bezeichnen Facebook und X (vormals Twitter) als »Herrschaftszentren unserer Zeit». Sie beschreiben, wie digitale soziale Bewegungen (#MeToo, #BlackLivesMatter, #schauhin, #aufschrei etc.) unsere Gesellschaften umtreiben.

Huber nannte beispielsweise die Lakota, die im Standing Rock Sioux Reservat leben. Sie wehrten sich ab 2015 gegen den Bau einer langen Öl-Pipeline, die unter dem grossen Fluss durchführen sollte. Unzählige Demonstrierende konnten sie über Plattformen sozialer Medien mobilisieren und so quasi die ganze Welt informieren. «Mit dem enorm wachsenden Druck auf die Politik», so Huber, «entschied jedenfalls der damalige Präsident der USA, Barack Obama, den Bau zu stoppen.»

Klar gebe es auch negative und «einer Demokratie widerläufige» Entwicklungen auf den Plattformen sozialer Medien, führte Huber weiter aus. So etwa «die Verbreitung von Fake News oder Trolling». Auch Diskriminierung finde vermehrt in diesem digitalen Raum statt. Es brauche deshalb Regeln für alle. Und die Betreibenden der Plattformen müssten die Richtlinien ebenfalls umsetzen, hielten sich aber in den seltensten Fällen daran. Das veranschaulichen Elon Musk und X.

Nichtsdestotrotz haben diejenigen, die nichts mehr zu verlieren haben, immer noch einen Vorteil, wenn sie auf Plattformen sozialer Medien ihre Anliegen vertreten können», bilanzierte Huber. «Und wir entscheiden selber, was wir preisgeben», relativierte auch Oliver Nachtwey, der humorvoll kritisierte, wie gut «der digitale Kapitalismus unsere Kleiderschränke kennt». Beide forschen intensiv weiter. Zum Glück.

Porträt Ueli Mäder © Christian Jaeggi

Am Donnerstag, 31.10.2024 (19 Uhr bis 20.30 Uhr) diskutiert Ueli Mäder im Kultur-Bistro Cheesmeyer (Hauptstrasse 55, Sissach) mit dem Publizisten Roger de Weck und der Nationalrätin Sibel Arslan über die «Kraft und Krise der Demokratie». Zur Sprache kommt auch de Wecks neues Buch «Das Prinzip Trotzdem – Warum wir den Journalismus vor den Medien retten müssen».

 

Spenden

Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, Sie zum Denken angeregt, gar herausgefordert hat, sind wir um Ihre Unterstützung sehr dankbar. Unsere Mitarbeiter:innen sind alle ehrenamtlich tätig.
Mit Ihrem Beitrag ermöglichen Sie uns, die Website laufend zu optimieren, Sie auf dem neusten Stand zu halten. Seniorweb dankt Ihnen herzlich.

IBAN CH15 0483 5099 1604 4100 0

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Beliebte Artikel

Mitgliedschaften für Leser:innen

  • 20% Ermässigung auf Kurse im Lernzentrum und Online-Kurse
  • Reduzierter Preis beim Kauf einer Limmex Notfall-Uhr
  • Vorzugspreis für einen «Freedreams-Hotelgutschein»
  • Zugang zu Projekten über unsere Partner
  • Massgeschneiderte Partnerangebote
  • Buchung von Ferien im Baudenkmal, Rabatt von CHF 50 .-