Noch im hohen Alter von 83 Jahren steht die in Zürich wohnhafte Schauspielerin Nikola Weisse auf der Bühne. Gegenwärtig spielt sie am Schauspielhaus Zürich die Titelrolle im Stück „Frau Yamamoto ist noch da“ von Dea Loher. Im Gespräch mit Seniorweb berichtet sie über ihre langjährige schauspielerische Tätigkeit.
1941 im pommerschen Belgrad im heutigen Polen geboren, erlernte Nikola Weisse das Schauspielhandwerk an der Westfälischen Schauspielschule Bochum und war an vielen wichtigen Theatern engagiert, darunter am Staatstheater Hannover, an der Berliner Schaubühne, am Bochumer Schauspielhaus, am Theater Bremen, am Theater Basel, am Schauspielhaus Zürich, am Theater Neumarkt Zürich. Sie hat in ihrer langen Laufbahn mit vielen bekannten Regisseuren zusammengearbeitet, unter anderem mit Horst Zankl, Jürgen Flimm, Frank Patrick Steckel, Jürgen Gosch, Herbert Wernicke, Werner Düggelin, Christoph Marthaler, Stefan Pucher, Falk Richter, Anna Viebrock und Elias Perrig.
Auch wirkte Nikola Weisse in verschiedenen Filmen mit, so in „Der Gehülfe“ von Thomas Körfer und in „Jack the Ripper“ mit Klaus Kinski. Zudem ist sie seit mehreren Jahren mit Soloprogrammen und Eigenproduktionen unterwegs. Gegenwärtig spielt sie am Schauspielhaus Zürich in „Frau Yamamoto ist noch da“ die Titelrolle und probt am Theater Basel in Christoph Marthalers neuem Musiktheaterabend „Tiefer Graben 8“. Seniorweb traf sie am Schauspielhaus Zürich zum Interview:
Was motiviert Sie, mit 83 Jahren noch auf der Bühne zu stehen?
Nikola Weisse: Im Moment schlicht und einfach das Angebot, das ich bekomme und wo ich dazu ja oder nein sagen kann. Ich bemühe mich, fit zu bleiben, damit ich noch möglichst lange spielen kann.
In „Frau Yamamoto ist noch da“ spielen Sie die Titelrolle. Was hat Sie bewogen, diese Rolle zu übernehmen? Spiegelt die Rolle in gewissem Masse ihr eigenes Leben?
Ich hatte ein Angebot, in Basel in einem neuen Stück von Christoph Marthaler mitzuspielen. Unklar war noch die Gage, da kam das Angebot, die Titelrolle in „Frau Yamamoto ist noch da“ am Schauspielhaus Zürich zu übernehmen. Ich war verblüfft, als ich das Stück las und hatte das Gefühl, die Rolle sei für mich geschrieben. Das kommt selten vor, und da habe ich mit Christoph Marthaler zusammen entschieden, dass ich das machen muss. So etwas kommt selten vor, dass alles passt: Rolle, Stück, Regisseurin.
Nikola Weisse als Frau Yamamoto in «Frau Yamamoto ist noch da», zusammen mit den beiden Hausbewohnern Micro Kreibich als Nino und Sebastian Rudolph als Erik. Foto: Alex Bunge.
Welche Rollen in Ihrem reichhaltigen Schauspielerinnenleben würden Sie noch gerne spielen?
Das ist eine Frage, die man mir schon in jungen Jahren als Schauspielerin gestellt hatte. Es gab damals Rollen, die ich gerne gespielt hätte, aber nicht gespielt habe. Heute bin ich befreit davon, unbedingt noch eine bestimmte Rolle spielen zu können. Ich realisiere auch eigene Projekte. Gegenwärtig erhalte ich noch ein bis zwei Angebote im Jahr, ansonsten mache ich gerne Lesungen mit Musik. Altershalber kommt für mich ein volles Engagement nicht mehr in Frage.
Gibt es den Zeitpunkt, an dem Sie sagen, jetzt ist Schluss, oder spielen Sie, bis es nicht mehr möglich ist?
Zu meinen Kindern habe ich gesagt, gebt mir Bescheid, wenn ich mit dem Spielen aufhören soll. Man kann sich selber nicht so gut spiegeln. Solange die anderen finden, das geht und ich mich genug fit fühle, spiele ich. Aber ich weiss aus Erfahrung, was das bedeutet. Dieser Tage haben für mich die Proben in Christoph Marthalers neuem Musiktheaterstück „Tiefer Graben 8“ in Basel angefangen. Gegenwärtig bin ich also in zwei Theaterstücken engagiert, und das ist sehr herausfordernd. Im Februar 2024 hatte ich eine Knieoperation und bin jetzt wieder einigermassen hergestellt, so dass ich in beiden Stücken spielen kann.
Sie können auf ein langes Theaterleben zurückblicken. 1963 standen Sie erstmals auf der Bühne. Seither haben Sie in unzähligen Inszenierungen mitgewirkt. Welches Fazit ziehen Sie aus ihrer langjährigen Theatertätigkeit?
Das ist eine zu grosse Frage. Ich freue mich, dass ich noch dabei sein kann und einigermassen verstehe, was die Jungen wollen, und wenn meine Art zu spielen noch gefragt ist. Ein Fazit kann ich erst nach Beendigung meines Schauspielerinnenlebens ziehen. Ich übernehme nur noch Rollen, die mir behagen, in denen ich einen Sinn sehe und die mein Denken widerspiegeln.
Nikola Weisse als Königin in «King Size», einem absurden Liederabend von Christoph Marthaler am Theater Basel aus dem Jahre 2013, hier zusammen mit Tora Augestad.
An welche Inszenierungen, in denen Sie mitgewirkt haben, erinnern Sie sich besonders gerne, an welche weniger?
Ich erinnere mich so wenig. Wenn wir schon darüber reden, so erinnere ich mich beispielsweise an Werner Düggelin, mit dem ich sehr gerne zusammengearbeitet habe. Düggelins Art zu führen kam mir sehr gelegen. An Horst Zankl erinnere ich mich gerne in der Neumarktzeit, und natürlich an zahlreiche Arbeiten, die ich mit Christoph Marthaler machen durfte und gerade wieder.
Sie haben mit vielen prägenden Regisseuren zusammengearbeitet. Welche Regisseure neben Düggelin haben Sie am meisten beeindruckt und geprägt?
Zu Beginn meiner Schauspielerinnenkarriere war es der Schauspielintendant Prof. Franz Reichert am Staatstheater Hannover, der mir den ersten Auftritt in Wien ermöglichte. Nach sechs Jahren Hannover schloss ich mich der Truppe um Horst Zankl an, der das Theater am Neumarkt in Zürich übernahm. Das war 1971. Diese Zeit in Zürich war für mich sehr prägend. Zankl führte ein Selbst- und Mitbestimmungssystem für alle Mitarbeiter:innen ein, was zu dieser Zeit revolutionär war. In dieser Zeit heiratete ich einen Schweizer. Seither gilt Zürich als meine Heimat. Ich verstehe mich heute als deutschsprachige Schweizerin, denn Schweizerdeutsch kann ich immer noch nicht.
Welche Theaterrollen haben Sie in Ihrem langen Theaterleben am liebsten gespielt? Mussten Sie auch Rollen übernehmen, die Ihnen weniger zusagten?
Ja, in meiner Ausbildungszeit gab es Rollen, die ich gerne gespielt hätte, aber nicht spielen durfte. In Hannover beispielweise wurden die Spieler:innen in sogenannte Fächer eingeteilt. Ich musste immer proletarisch, kleinbürgerlich geprägte Rollen spielen, so zum Beispiel die Franziska in Lessings «Minna von Barnhelm» oder die Pipercarcka in Hauptmanns „Ratten“. Ich fand das sehr komisch, habe aber dabei gelernt, mich in eine bestimmte Figur hineinzuversetzen. Das hat sich zwischenzeitlich total geändert. Auch in Zürich gab es damals definierte Fach-Rollen, so jene der jugendlichen Liebhaberin oder der jugendlichen Naiven oder des Charakter-Helden. Selbst in den Nebenrollen gab es diese Fachzuteilung zum Vorteil der Spielenden, die bei Bedarf bis ins hohe Alter mitspielen konnten und vom Publikum sehr geschätzt wurden. Heute spielt eine 50-Jährige oft eine alte Frau, was wenig glaubhaft wirkt. Diese Kluft ändert sich wieder langsam. Es kann nicht sein, dass das Schauspielerleben mit 50 zu Ende ist. Unsere Gesellschaft goutiert das nicht mehr.
Wie sehen Sie den Trend, dass immer mehr die Rollen vertauscht werden, also Männer Frauenrollen übernehmen und umgekehrt?
Das Gendern, also der Rollentausch hat im Moment auch Vorteile. Am Beispiel der König Lear-Aufführung, die gegenwärtig am Schauspielhaus zu sehen ist, kann man miterleben, wie die Frau in der Rolle eines Patriarchen – Graf Gloucester wird von Karin Pfammatter gespielt – Leid erfährt und daran zugrunde geht. In der Männerwelt bleiben leidgeprüfte Patriarchen meist an der Macht oder denken, sie seien noch an der Macht – hier König Lear, grossartig gespielt von Rainer Bock. Wichtig ist beim Gendern, dass der Inhalt der Vorlage vorab bei den alten Stücken gewahrt bleibt oder zumindest reflektiert wird, also die Situation der Frauen und Männer in der damaligen Gesellschaft zumindest zur Kenntnis genommen wird. Das kann man nicht einfach so umwirtschaften. Die patriarchale Bewegung ist sehr alt und muss überlegt und passend hinterfragt werden. Nicht alle Rollen eignen sich für einen Rollentausch, schon gar nicht aus modischen Zwängen.
In der Theaterwelt herrschten lange patriarchale Strukturen. Wie sieht es damit heute aus?
Patriarchale Strukturen habe ich in meiner früheren Theaterarbeit noch sehr stark erlebt. In meiner Zeit am Theater Neumarkt aber wurde kollektives Miteinander gelebt, alle Mitarbeitenden konnten mitreden und mitbestimmen, so auch bei der Wahl der Regisseure, der Stücke und auch der Besetzungen. Auch an der Schaubühne in Berlin und im Grossen Theater Frankfurt wurde das kollektive Experiment eine Zeit lang praktiziert. Doch danach wurden wir Schauspieler:innen wieder auf den Markt geworfen. Es herrschten dann zwar nicht mehr patriarchale, aber sehr regiebedingte Strukturen. Heute gibt es Regieteams mit ihrer Entourage, in die auch Schauspieler:innen eingeladen werden. Doch letztlich will der Regisseur/die Regisseurin seine/ihre Idee verwirklichen. Das ist verstehbar. So ist es auch bei Christoph Marthaler, der ähnlich wie Horst Zankl arbeitet, aber eben transparent. Diese Art der Zusammenarbeit ist mir aus meiner Zeit am Theater am Neumarkt sehr vertraut.
Sie haben auch Regie geführt und Soloprogramme inszeniert. Welche Erinnerungen und Erfahrungen verknüpfen Sie damit?
Nach mehreren Regiearbeiten an verschiedenen Bühnen hatte ich mich erfolglos als Direktorin des Theaters am Neumarkt beworben. Die Möglichkeit, weitere Inszenierungen an dieser Bühne zu realisieren, wurde mir auf unschöne Art verwehrt. Das war damals ein Schock für mich und ich beschloss, nur noch als Schauspielerin zu arbeiten, mit Regisseuren, die besser als ich waren. Ich gab die Regiearbeit auf und begann, mehr eigene Soloprogramme zu entwickeln. 1980 realisierte ich schon mein erstes Soloprogramm, einen dokumentarischen Text über Kindesmisshandlung, das über 200 Mal aufgeführt wurde. In der Folge überbrückte ich die Zeit, in der ich nicht an einer der grossen Bühnen engagiert wurde, mit Eigenproduktionen. Dadurch habe ich die Kleintheaterwelt und die ländliche Schweiz kennengelernt, indem ich mit meinen Soloprogrammen durch die ganze Schweiz getourt bin. Gegenwärtig bereite ich zusammen mit dem Pianisten Benjamin Engeli unter dem Titel „Memoiren eines Irren“ eine Lesung mit Texten des jungen Gustave Flaubert und mit Musik von Franz Liszt vor. Solche Programme mache ich sehr gerne.
Apotheken, sie wachsen uns in dieser Zeit ans Herz. Olivia Grigolli, Nikola Weisse (Mitte) und Liliana Benini in «Das Weinen (Das Wähnen)» von Christoph Marthaler, uraufgeführt 2020 am Schauspielhaus Zürich. Foto: Gina Folly
Wie hat sich das Theater in Ihrer langen Zugehörigkeit gewandelt oder verändert? Anders gefragt: Wie schätzen Sie die Wirksamkeit des heutigen Theaters ein?
Das Theater ist nicht frei, es wird beeinflusst durch das, was gerade in der Welt passiert und wer gerade regiert. Auch die Besucherzahlen spielen eine Rolle. In der Schweiz ist das recht kompliziert. Die ältere Generation erinnert sich gerne an die Theaterzeit im Zweiten Weltkrieg und danach, als die Migration eine wichtige Rolle spielte. Viele alte Menschen verbinden die Schönheit des Theaters mit ihrer Jugend. Das Theater hat sich im Verlauf seiner Geschichte immer wieder hochgerappelt. Wichtig scheint mir, dass die Eintrittspreise gesenkt werden, damit auch Jugendliche und Familien mit Kindern ins Theater gehen. Leider scheint es so, dass die letzte Intendanz mit Stemann und Blomberg das Schauspielhaus Zürich herabgewirtschaftet hat. Natürlich hat auch die Coronazeit die Intendanz auf eine harte Probe gestellt. Mit dem jetzigen Intendanten Ulrich Khuon und der neuen Intendanz mit Pinar Karabulut und Rafael Sanchez ab Spielzeit 2025/2026 besteht die berechtigte Hoffnung, dass das Schauspielhaus wieder Zuspruch findet.
Letzte Frage: Was raten Sie einem jungen Menschen, der ins Theaterleben einsteigen möchte?
Früher habe ich im Theaterunterricht zu den Schauspielschüler:innen gesagt: Die Lust muss grösser sein als der Frust. Natürlich braucht es dazu viel Kraft, den Preis dafür zu bezahlen, die Familie durchzubringen und Kinder zu haben. Das Theater muss dies ermöglichen, damit auch minderbemittelte Jugendliche den Theaterberuf ergreifen und davon leben können. Ich musste sehr lange bis 50 mit sehr wenig Geld auskommen. Heute kann ich leben wie die meisten alten Leute.
Mehr über Nikola Weisse unter www.nikolaweisse.ch
Vielen Dank für diesen Beitrag und das Gespräch mit der bewundernswerten Schauspielerin Nikola Weisse, die ich leider bisher nicht kannte. Meine Lust auf Theater ist neu entfacht.