StartseiteMagazinKulturMeret Oppenheim – ihr Weg in die künstlerische Freiheit

Meret Oppenheim – ihr Weg in die künstlerische Freiheit

Eine neue Biografie über Meret Oppenheim von Bärbel Reetz, aus der Sicht einer Germanistin, nicht einer Kunsthistorikerin. Aufgrund schriftlicher Zeugnisse eröffnet sie einen vertieften Zugang zum Wesen der eigenwilligen Künstlerin.

«Ich glaube, wenn man alles zusammenträgt, wird ihr schriftliches Werk genauso interessant sein wie ihr künstlerisches», schrieb Dominique Bürgi, die ehemalige Verwalterin des Archivs Meret Oppenheim. Diese Aussage nahm sich die Autorin Bärbel Reetz zu Herzen. Sie kannte das Werk von Meret Oppenheim seit 1972 und interessierte sich als Germanistin ebenso für deren Schriften. Dazu gehören Gedichte, Traumprotokolle, Briefe und besonders das Album, «Mein Album – My Album» mit Kommentaren, Fotos und Zeichnungen der Künstlerin, das seit 2022 publiziert vorliegt.

Meret Oppenheim (1913-1985) zeichnete und malte, was sie sah, hörte, las und hielt Erlebtes schon als Kind in Briefen fest. Denn sie verbrachte ihre Schulzeit hauptsächlich extern in Internaten und war nur während der Ferien zu Hause. Geboren wurde sie in Berlin, 1914 zog die Familie nach Steinen bei Lörrach. 1919 erwarb Grossvater Theodor Wenger in Carona TI ein Ferienhaus, das Meret später auch als Rückzugsort diente. In Basel besuchte sie 1930 die Gewerbeschule und lebte bei ihrer Grossmutter Lisa Wenger, die selbst Künstlerin und Kinderbuchautorin war – wer kennt nicht Joggeli söll go Birli schüttle.

Im Mai 1932 zog Meret 18-jährig mit der vier Jahre älteren Malerin Irène Zurkinden nach Paris. Rasch fand sie Eingang in die Künstlerkreise und befreundete sich mit Alberto Giacometti, Hans Arp und den Surrealisten um André Breton und stellte mit ihnen zusammen aus. Bei einem Besuch in Alberto Giacomettis Atelier 1933 betrachtete sie sein Ohr, «und dann sah ich, das ist ja ein Händchen, aus dem zwei Pflanzen entspringen. Zuhause habe ich eine Zeichnung gemacht», nach der sie ein Wachsmodell formte. 1958 stellte sie nach dieser Vorlage ein Schieferrelief her. Ein Jahr später goss sie das Ohr in Bronze. Für neue Arbeiten liess sie sich später gerne von Zeichnungen aus der Pariser Zeit inspirieren.

Die Pelztasse war nicht ihr einziges Werk

Die junge, attraktive Meret war in den Pariser Künstlerkreisen gerne gesehen. Man Ray machte ikonische Aktfotografien von ihr, die in die Kunstgeschichte eingingen. Dies führte dazu, dass sie mehr als Muse und Modell wahrgenommen wurde und nicht als eigenständige Künstlerin. Doch mit Déjeuner en fourrure, ein mit Pelz überzogenes Kaffeegedeck, erregte sie 1936 grosses Aufsehen. Frühstück im Pelz gilt heute als ein Schlüsselwerk des Surrealismus. Noch im gleichen Jahr wurde es im Museum of Modern Art in New York ausgestellt und von diesem Museum erworben. Doch lange wurde Meret Oppenheim nur über die sogenannte Pelztasse definiert, obwohl sie ein umfangreiches Werk vorzuweisen hat.

Meret Oppenheim und Irène Zurkinden im Café du Dôme in Paris, 1932

Pelz gehörte zu den bevorzugten Materialien der Künstlerin. Sie überzog Armbänder mit Pelz. Die Haute Couture hatte es ihr angetan. Sie war mit Modeschöpferinnen wie Elsa Schiapirelli befreundet, die ihre Pelzarmbänder verkaufte. Pelz setzte Oppenheim nicht nur in Objekten künstlerisch ein, sondern auch poetisch, wie etwa in einem ihrer surrealen Gedichte:

Weil er sich den Rücken kehrt / Verliert er / Über den Kaminen / Die roten Ecklein / Die roten Füchslein / Alle leben einsam / Sie zehren am längsten / Sie essen ihren Pelz.

Ihre erste Einzelausstellung in Basel im Frühjahr 1936 war enttäuschend. Unverständnis und sarkastische Kommentare in der Presse, besonders zum Objekt Ma gouvernante – my nurse – mein Kindermädchen trafen sie. Alle in Basel ausgestellten Werke führte sie in ihrem Album einzeln auf und kommentierte sie. Um Geld zu verdienen jobbte sie, litt aber auch unter Depressionen. Von 1938 bis 1939 belegte sie an der Gewerbeschule in Basel Kurse in Porträt-, Akt- und Perspektivzeichnen und lernte zusätzlich zu restaurieren. Damit verschaffte sie sich Verdienstmöglichkeiten.

Meret Oppenheim von ihrer Mutter Eva Oppenheim-Wenger fotografiert, ca. 1949

Im Buch von Bärbel Reetz stehen nicht die Abbildungen im Vordergrund. Anhand schriftlicher Quellen lernt die Leserin Meret Oppenheim durch alle Lebensphasen hindurch persönlich kennen, eingebettet in das jeweilige gesellschaftliche Umfeld: Ihre tiefe Verbindung mit dem Vater und der geliebten Grossmutter, das Leben in Carona, in Basel und Paris; die Beziehung mit Max Ernst, mit dem sie etwa ein Jahr zusammenlebte. Weitere intensive Beziehungen mit Künstlerinnen und Künstlern, die sich auch wieder lösten, bis sie ihren Lebenspartner fand, der ihr den nötigen Freiraum liess.

Meret Oppenheim liess sich nicht festbinden, auch künstlerisch fühlte sie sich keinen Kunststilen und Techniken verpflichtet. Ihr Leben war ein Ringen um Freiheit und Anerkennung in einem patriarchalen Umfeld. Sie nahm sich das Recht, als unabhängige Frau zu leben und zu lieben, als Künstlerin frei zu arbeiten. «Die Freiheit wird einen nicht gegeben, man muss sie sich nehmen», schreibt sie.

Erst jüngere Generationen nach den 1960er Jahren erkennen die künstlerischen Qualitäten und stellen Meret Oppenheims Werk bis heute weltweit auch in grossen Retrospektiven aus. Zwar dauerte es etwas länger, bis sich einzelne ihrer Arbeiten verkaufen liessen. Heute bietet das Internet teure Repliken von ihren Objekten an. Umso schöner erscheint dieses sorgfältig gestaltete Buch, das vertieft auf das Wesen der Künstlerin eingeht, sie zu Wort kommen lässt und die Gesellschaft ihrer Zeit abbildet.

Meret Oppenheim – eine Wegbereiterin für Marina Abramović

Meret Oppenheim hatte 1959 zuerst in Bern im privaten, später auf Wunsch von André Breton im öffentlichen Rahmen einer Ausstellung mit Das Frühlingsfest eine zukunftsweisende Performance veranstaltet. Sie schmückte eine nackte, auf einem Tisch liegende junge Frau mit Früchten, Blumen, Schlagrahm, Fleisch und Langusten. Die Gäste durften dann als «Frühlings-Fruchtbarkeits-Ritual» dieses Essen gemeinsam verzehren. Von der Uraufführung dieser Performance liegt nur noch eine unscharfe Fotografie vor. Es ist nicht bekannt, ob Marina Abramović davon wusste.

Titelbild: Meret Oppenheim auf der Veranda des Belvedere im Tessin, fotografiert von ihrer Mutter Eva Oppenheim-Wenger, ca. 1955. Fotos: vom Verlag zur Verfügung gestellt

Bärbel Reetz, «Meret Oppenheim. Wandlungen». Verlag Rüffer & Rub, Zürich 2024.
ISBN  978-3-907351-26-0

Im nachfolgenden Seniorweb Beitrag finden Sie Abbildungen von Meret Oppenheims Werken: Die vielseitige Kunst der Meret Oppenheim

 

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