Die Eltern der sechsjährigen Kameraden Armand und Jon werden zu einem Gespräch mit der Klassenlehrerin Sunna ins Schulzimmer gerufen. Die alleinerziehende Elisabeth erfährt, dass ihr Sohn den anderen Jungen attackiert und ihm gedroht haben soll, ihn anal zu vergewaltigen. Ein ernst zu nehmender, jedoch schwer zu klärender Vorfall. Die junge Lehrerin, der Schulleiter Jarle und seine Sekretärin Ajsa beginnen mit Gesprächen, um eine gemeinsame Lösung zu finden. Die Situation eskaliert, als auch noch andere Eltern dazukommen und der Streit weitere Kreise zieht. 

In der Regie von Halfdan Ullmann Tøndel, dem Enkel von Ingmar Bergman und Liv Ullmann, spielen Renate Rinsve als Elisabeth, Ellen Dorrit als Sarah, die Mütter von Armand, dem angeblichen Täter, und Jon, dem angeblichen Opfer, die Antipoden. Sarah ist die Frau von Andres und die Schwägerin von Thomas, der Sarahs Bruder und Elisabeths Mann war, bevor er sich umgebracht hatte. Die Schule wird von Sunna, Jarle und Ajsa vertreten.

Das Drehbuch zum Film wurde mehrfach zur Unterstützung eingereicht, doch immer abgelehnt, bis Renate Rinsve, der Superstar des nordischen Kinos, sich für das Projekt engagieren liess, auch hier Schauspielerin ist. Sie dominiert ab ihrer Ankunft im Klassenzimmer bis zum dramatischen Ende.

02 armand SchulleitungSunna, Jarle, Ajsa mit Elisabeth (von hinten)

Auf der Suche nach der Wahrheit

Wer als Krimifan hier eine kriminalistisch, verhandlungstechnisch, filmisch konventionelle perfekte Handlung erwartet, wird enttäuscht. In diesem Film handeln fehlerhafte Menschen, wie Menschen meist sind, wenn es um die wesentlichen Fragen ihres Lebens geht. Dieses «Errare humanum est» erfordert Mitdenken des Publikums, vor allem wenn man meint, Kunst serviere die Wahrheit auf einem goldenen Tablett. «Armand» liefert Fragmente, Mosaiksteine, auch nach zwei Stunden kein schön abgerundetes Bild.  

Was naturalistisch beginnt, wandelt sich allmählich zu einem dunklen, albtraumhaften Psycho-Triller, von dem man seine Augen kaum mehr wegziehen kann, so auch beim fast fünf-minütigen Lachanfall Elisabeths, wenn danach die Suche nach der Wahrheit auf der Strecke bleibt, zugunsten von Szenen mit Obsessionen unterdrückter Begierde, Betrugs, Lügen und düsteren Geheimnissen.

04 armandElisabeth in Action

Um was geht es eigentlich?

Bei Ereignissen in Schulen, wie dem Elterngespräch in «Armand», entsteht eine Situation, bei der die Eltern über und für die Kinder sprechen, also wörtlich als Vor-Mund handeln. Dabei kann es passieren, dass sie ihre eigene Befindlichkeit in das Handeln der Kinder projizieren. Davon lebt gelegentlich die Handlung dieses Films, was Kritiker schon als nicht-dazu-gehörige Nebensache, als Fremdkörper bezeichnet haben.

Für mich stimmt Tøndels Erzählweise. Meist geschieht dies in Worten, Gesprächen oder Auseinandersetzungen, aber auch, und das ist typisch für ihn, mit seiner reichen Filmsprache: mit der Kamera von Pål Ulvik Rokseth, der Raumgestaltung von Mirjam Veske, der Musik von Ella van der Woude, der Choreografie von Sigyn Åsa Saetereng, dem Schnitt von Robert Krantz. Mit der Montage werden die verschiedenen Themen zu einer streng komponierten Mise en Scène vereint. Eine kurze Tanzeinlage zwischen Elisabeth und dem Putzmann ist ein solcher passender «Fremdkörper». 

Der Regisseur lässt uns am Ende vieler Szenen hängen, schliesst sie nicht ab, lässt Angesprochenes unbeantwortet. Er verwendet zwar das Brennglas, doch nicht um Einzelhandlungen zu analysieren, sondern um Vermutungen, Befürchtungen, Ängste, Hemmungen, Wut, Trauer und Verdacht als Ganzes unter ein Dach zu bringen und damit ein «menschliches Bestiarium» entstehen lassen. Diese Themen sind an diesem oder jenem Ort, in diesem oder jenem Disput versteckt. Das Wechseln und Verwandeln zeigt den Wechsel und das Verwandeln von Liebe zu Aggression und von Aggression zu Liebe, wie wir es von den Jeux Dramatiques kennen.

Wahrheit oder Lüge, Opfer oder Täter, Schuld oder Unschuld, Realität oder Abbild, Gut oder Bös? Das sind die auf- und abtauchenden Themen, die den Reichtum dieses Filmes ausmachen. Halfdan Ullmann Tøndel umschreibt sein Ziel, das er mit dem Film erreichen will: «Reflexion über unsere Gesellschaft und unsere Art, mit Konflikten umzugehen». 

05 armand Ellen Dorrit Petersen, Endre HellestveitSarah und Andres

Mit «Armand» verglichene Theater und Filme

Kommt man von «Armand» zum Theater – der Film ist in vielem Theater, ein Kammerspiel – so drängt sich als Vergleich der Norweger Henrik Ibsen mit seinen bürgerlichen Trauerspielen wie «Nora oder Ein Puppenheim», «Hedda Gabler», «Die Wildente» und «Peer Gynt» auf. Damit wird auf die psychologische, soziale und soziologische Dimension von Tøndels Werk verwiesen.

Vom Kino drängen sich die Filme des Schweden Roy-Andersson mit seiner besonderen Skurrilität auf, etwa in «Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Eixtence» und «About Endlessness». Mit diesen wird auf die hintergründige Absurdität auch von «Armand» verwiesen.

06 armand SchlusskampfElisabeth im Beziehungskampf am Ende

Ideenkonstrukt, Schlusswort und Fazit

Nicht unwichtig scheint mir, dass fast der ganze Film im Innern eines Schulhauses, einer Institution also, spielt und mit einer 16-mm-Kamera gefilmt wurde, um der Pseudo-Objektivität heutiger Handy-Bilder zu entkommen. Immer wieder werden wir hineingerissen in die Klaustrophobie, in der auch die Handelnden sich bewegen. Vielleicht führt diese das Leben begleitende klaustrophobe Suche nach Wahrheit auch uns ins Dunkel, vielleicht sogar ins vorgeburtliche, das wir kaum mit Worten zu erfassen vermögen, obwohl dort so unendlich viel geschieht. Das «Ideenkonstrukt», wie Tøndel den Film bezeichnet, das fast gewöhnlich, alltäglich, naturalistisch beginnt, endet in einer mit vielen Deutungen geladenen Katharsis.

Das Schlusswort, das Elisabeth an uns richtet: «Du weisst, wenn man uns oberflächlich betrachtet, gibt es da eine Menge Chaos. Wenn man tiefer blickt, gibt es viel, das auch nicht gut ist. Aber wenn man genau den richtigen Abstand findet, nicht zu viel, nicht zu wenig, dann kann man sehen, dass es uns gut geht.»

Persönliches Fazit nach diesem nicht leichten, doch herausfordernden Films: Halfdan Ullmann Tøndel, der Enkel von Ingmar Bergman, hat mit «Armand» ein modernes Denkmal für «Persona», seines Grossvaters Meisterwerk aus dem Jahre 1966, geschaffen, auch wenn ihm nicht alle folgen.

Regie: Halfdan Ullmann Tøndel, Produktion: 2024; Laufzeit, Länge: 116 min, Verleih: Frenetic