Lange Zeit gelang es mir recht gut, mein Älterwerden zu kaschieren. Gerne nahm ich die Komplimente entgegen, die mir gemacht wurden: „Nein, du bist doch noch lange keine neunzig. Du wirkst viel jünger.“ Kam ich dann mit einem oder sogar mehreren dieser Komplimente lächelnd nach Hause, suchte ich die Bestätigung in alter Gewohnheit beim Spiegel und plauderte mit ihm. Er sagte: „Du hast ja gar keine Falten im Gesicht. Und du stehst noch immer kerzengerade vor mir.“ „Die Haut habe ich von meiner Mutter“, entgegnete ich. „Selbst mit neunzig hatte sie noch straffe Gesichtshaut, ohne Krähenfüsse um die Augen. Ausserdem trainiere ich regelmässig auf dem Hometrainer.“ „Aber jeden Tag cremst du Arnika-Salbe oder Ähnliches auf deine Glatze und ins Gesicht.“ „Darf ich das etwa nicht?“ „Hab ja nichts dagegen. Es ist nur… Verlustverarbeitung.“ Nein, die Glatze stört mich nicht. Von den Chinesen habe ich die charmante Beschreibung übernommen, die sie verwenden, ohne je von einer Glatze oder schütterem Haar zu sprechen: Sie sagen einfach «s Gsicht chunt füre».
Doch mit zunehmendem Alter gelang es mir nicht mehr, den Verlust an Körperkraft zu verschleiern. Bei Anlässen hielt ich mich oft unauffällig in der hinteren Reihe. Kürzlich ging ich ins Kino und bat an der Kasse um einen Platz am Rand einer Sitzreihe – keinesfalls wollte ich über die Beine bereits sitzender Damen und Herren stolpern. Schon der Gedanke daran, wie mich ein Blick träfe, den ich sofort lesen könnte: „Warum kommt der alte Herr so spät? Hätte doch früher kommen und sich in die Mitte setzen können.“ Ähnlich geht es mir manchmal im Einkaufszentrum, wenn ich etwas länger an der Kasse stehe, um zu zahlen und meine Einkäufe im Rucksack zu verstauen. Da spüre ich hin und wieder Blicke, die sagen: „Kann der nicht einfach mit Karte zahlen?“
Ich muss mich also in Geduld üben und murmele dann gelegentlich in Richtung eines ungeduldigen Blicks: „Du wirst auch mal älter!“ Mit dem Gebrauch meiner Gehstöcke habe ich den Versuch aufgegeben, den eigenen Altersverlust unsichtbar zu machen. „Verlustinvisibilisierung“ – ein Wort, das ich erst richtig buchstabieren musste, bevor ich es korrekt abschreiben konnte. Ich stiess darauf im Buch „Verlust“ von Andreas Reckwitz. Darin heisst es, wir müssen lernen, mit Verlusten zu leben. Dafür braucht es nicht einmal den Gedanken an den Klimawandel und seine Folgen; ein Blick auf mich selbst genügt. Ich muss mir eingestehen, dass ich nicht mehr mit der gewohnten „Mach-noch-schnell-dies“-Mentalität reagieren darf. Stattdessen muss ich meinen Füssen Zeit geben. Auch schlechtere Nachrichten in den Medien treffen mich subjektiv nicht mehr so stark; vielmehr habe ich mit meinen eigenen Verlusten zu rechnen. Wenn ich im Dorf zum Grossverteiler gehe, erkenne ich nur noch jeden Hundertsten, mit dem ich ins Gespräch kommen könnte. Die Namen der meisten Bekannten lese ich inzwischen auf dem Friedhof.
Früher habe ich oft ironisch gesagt, die Menschen und besonders die Regierenden würden unter „Lustverlust“ leiden. Bei meinen eigenen Wahlen folgte ich einem Marketingberater, der einmal schrieb: „Lächeln wirkt souverän.“ Die steife Art des Lächelns, wie ich sie auf Wahlplakaten zeigte, habe ich zwar abgelegt, aber ein freundliches, manchmal sogar heiteres Lächeln ist mir geblieben. Ich beobachte jedoch, dass viele ältere Menschen eher griesgrämig kommentieren. Das kann ich gut verstehen – auch sie leiden wohl unter Lustverlust. Ich versuche dagegen zu halten, damit es in meinem Nachruf vielleicht einmal heisst: „Er war trotz allem ein freundlicher Mensch!“
Aus Ihrem Kommentar wird klar, dass Ihnen wichtig ist, was andere über Sie oder von Ihnen denken. Mir ist das eigentlich egal, so lange man nicht Unwahrheiten über mich verbreitet; bei Kenntnis werde ich auch schon mal ausfällig.
Was das Altern betrifft nehme ich Tag für Tag zur Kenntnis, dass die Energie weniger wird, die alternden Knochen weh tun, das Gedächtnis nachlässt und manchmal einfach die Worte fehlen. Was soll’s, es ist normal.
Vielleicht dachten wir, es geht nach der Pensionierung immer weiter so und Gedanken ans Altern sind in unserer Gesellschaft eh nicht cool. Im Gegenteil, die Gesundheits-, die Schönheits- und Kosmetikindustrie pusht immer neue Produkte und Therapien auf den lukrativen Markt, mit denen sie uns weismachen wollen, dass wir ewig attraktiv, sexy und gesund bleiben können resp. müssen. Das halte ich für eine Lüge und sie erschwert zudem die Akzeptanz des natürlichen Alterns.
Körperpflege und ein schönes Outfit, wenn man unter Leuten ist, halte ich für sinnvoll und hilfreich aber eigentlich gehe ich mit dem vielseitigen und lebensfrohen Gentlemen-Playboy Gunter Sachs einig; er meinte, dass das Altern und seine Gebrechen eine Zumutung und eine Beleidigung des Menschsein sei. Er hat seine beginnende Demenz nicht akzeptiert und sich 2011 mit 79 Jahren erschossen. Es geschah im Einvernehmen mit seiner Frau und Familie.
Ich musste an ihn denken, weil er am 14. November Geburtstag hatte wie ich auch; ich habe vorgesorgt für den Fall der Fälle. Da ich keine Grabstätte haben werde, die meine Kinder bewirtschaften müssten, muss ich mir auch keine Gedanken über die Inschrift machen.
Ja, älter werden immer die ANDEREN, denken viele jüngere Menschen. Und ich finde es eigentlich normal, wenn man lebt und nicht immer über das älter werden nachdenkt. Älter, gebrechlicher wird man doch dann automatisch.
Und ja. Einige, bekannte Persönlichkeiten sagen es offen. Altsein und noch älter werden ist kein Spaß.
Manchmal lese ich, das wir das befinden im Alter beeinflussen können. Na ja……..
Versuchen kann man es ja. Ob es dann aber auch zufriedenstellend gelingt ist was anderes.
Eigentlich geht es ums akzeptieren.
Lieber Andreas Iten
Wir verlieren zwar einige Dinge (Attraktivität, Haare, Ungeduld, Schnelligkeit….aber wir gewinnen auch einige Dinge: wir dürfen am Morgen spät aufstehen. Wir dürfen uns ab und zu gewisse kleine Extras leisten, die wir uns früher aus Spargründen versagt haben und, last but not least, wir werden weiser durch Erfahrung.
Ich danke dem Schicksal, dass ich noch laufen, hören, sehen und riechen kann.
«Alt werden ist nichts für Feiglinge» – wo schon wieder habe ich dieses Zitat gelesen? Wohl eine Alterserscheinung, dass ich das vergessen habe.
Wenn wir «altersentsprechend» gesund bleiben dürfen, ist das Alter eigentlich ein Geschenk. Wir müssen eigentlich nichts mehr – wir dürfen! Ja, wir benötigen für alles mehr Kraft, auch für die schönen Dinge, aber ich denke, wir geniessen intensiver, bewusster… Tun wir das solange uns das Leben diese Chance gibt. Und damit wir später – wenn uns diese Kraft verlässt – dankbar an die vielen schönen Momente zurückdenken dürfen und besser loslassen können. Ich wünsche allen Lesenden, allen älteren Mitmenschen, eine erfüllte, lebenswerte Zeit!
Michèle Härdi
Wie doch die Zeit vergeht. Alt ist mein Körper, nicht aber der Geist geworden. Noch immer stehe ich morgens – allerdings etwas später als vor 10, 20 oder 30 Jahren auf. Nehme mir dafür auch mehr Zeit als früher. Geniesse, dass ich das alles darf und selbst bestimmen kann was ich unternehmen oder lassen will. Bin dankbar, in einem wunderbaren Land wie der Schweiz leben zu dürfen. Sicher gibt es Abstimmungen, die, wenn ich bei den Verliererinnen bin, mir etwas Zeit abverlangen, sie zu akzeptieren. Mental hat sich da wenig verändert. Aber ein bisschen Altersmilde ist dazugekommen. Also nicht nur Verlust im Alter. Jetzt wo ich merke, dass ich gelassener werde, gebe ich mir einen kleinen Kick und nehme die Treppe statt den Aufzug. Wieder ein kleiner Zugewinn. Na geht doch.