Zwei Schweizer Berggemeinden namens Brienz leben derzeit mit Katastrophen: In Brienz in Graubünden steht der Schuttstrom des Felssturzes direkt vor der Haustüre. In Brienz im Berner Oberland haben Wasserfluten und Felsabbrüche Teile des Ortes verwüstet. Hier hat Seniorweb eine Betroffene besucht.
Meine Schwägerin Claire-Lise Vuilleumier lebt seit etwas mehr als vierzig Jahren im Berner Oberland in Brienz. Sie wohnte in der Nähe des Glyssibachs, als dieser 2005 eine Flutkatastrophe auslöste, dabei starben zwei Menschen. Sie selbst wurde evakuiert, ihr Haus blieb verschont. Die Häuser im direkt betroffenen Gebiet wurden abgerissen – der Bach braucht seinen Platz – auch wenn er in der Regel ein Bächlein ist.
Der Milibachfall oberhalb von Brienz im Berner Oberland ist eine Postkartenidylle.
Später zog Claire-Lise in Brienz in eines der Häuser weiter westlich am Unterlauf des Milibachs. Auch der ist eigentlich harmlos. Der Wasserfall weit oben im Berg sieht pittoresk aus. Doch auch der Milibach kann toben. Bereits 2014 donnerte er in einem dickflüssigen Brei aus Wasser und Schlamm mit tonnenschweren Felsbrocken bis zur Kantonsstrasse und zum See hinunter und hinterliess Verwüstungen. Die Aufräumarbeiten dauerten lange. Die Gemeinde holte Fachleute, die das Bachbett tieferlegten und mit hohen Mauern sicherten, zudem wurde weiter oben am Berg ein riesiges Auffangbecken errichtet.
Am Abend des 12. August 2024 donnerte der Wasserfall erneut unter einer Dunstglocke herunter, breitete sich aus und bildete auf der rechten Seite zwei weitere Wasserfälle. Von unten her war das Geschehen am Berg nicht klar ersichtlich.
In diesem Sommer, zehn Jahre später, wütete der Milibach wieder, diesmal noch viel schlimmer. Er demonstrierte seine Macht und überflutete die vor zehn Jahren erstellten Sicherheitsbauten. Claire-Lise rief mich am 12. August 2024 gegen 19 Uhr besorgt an und liess mich durch den Hörer das intensive Rauschen des Bachs hören. Sie wusste noch nicht, was sie erwartete.
Der Milibach nimmt sich gewaltsam seinen Raum, Wiesen, Häuser, Strassen, alles wird über überflutet.
Eigentlich wollte sie an diesem Abend mit einer Bekannten wegfahren, doch bei dem Regen liessen sie es bleiben. Und der Regen wurde immer intensiver, der Bach immer gewaltiger. Von der Terrasse aus sah sie, wie schnell das Wasser das Bachbett füllte und über die Ufer trat. Die danebenliegende Strasse war im Nu ein reissender Strom. Zudem kamen noch Wassermassen vom gegenüberliegenden Friedhof hinzu, wo die Gräber überschwemmt wurden. Als passionierte Fotografin holte Claire-Lise den Fotoapparat, denn das konnte sie niemandem mit Worten beschreiben. Nach der ersten Wasserflut folgten zusätzlich Schlamm, grosse Steine, Baumstämme, Bretter und Möbelteile, die von den oberen Häusern mitgerissen wurden.
Auf die erste Wasserflut folgten grosse Steine, Felsbrocken und Baumstämme vom Berg, zudem Holzteile von den Häusern weiter oben. Die Kantonsstrasse unten neben dem See wurde selber zum Fluss.
Und Claire-Lise, hatte sie keine Angst mitten in dieser Sintflut? Es war komisch, sagt sie, «ich war wie eine Zuschauerin in einem Theater, ich fühlte mich in Sicherheit und draussen geschah etwas ganz Schlimmes. Andere mussten um ihr Leben bangen und ich hatte nie Angst. Die Rettung telefonierte mir, ich müsste sofort weg. Aber es war viel zu gefährlich, auf die überflutete Strasse zu gehen. Der einzige Ausweg wäre über die hintere Terrasse und die Kirchenmauer hin zu den Kindergräbern neben der Kirche gewesen. Aber allein schaffte ich das nicht.» Sie packte ihren Rucksack und die Rettungsmannschaft führte sie dann über die Umfassungsmauer der Kirche, was für sie alleine viel zu riskant gewesen wäre. «Wenn man jung ist, ist das kein Problem,» meinte sie, «aber im Alter geht das nicht mehr.»
Für die Rettung musste Claire-Lise vom Holzbalkon auf die Kirchenmauer steigen. Zwischen dem steil abfallenden Dach und der Hecke wurde sie von einem rückwärtsgehenden Retter an den Händen geführt, bis sie neben der Kirche auf sicherem Boden stand. Von dort aus ging es in die Turnhalle des Schulhauses zur Evakuation.
Am nächsten Tag schien die Sonne, als ob nichts gewesen wäre. Sofort wurde mit dem Abtransport des Materials auf der Kantonsstrasse am See begonnen. Der Bach hatte sich auch hier neue Zugänge zum See geschaffen. Weiter oben wurden Häuser zum Teil mit Stein- und Felsbrocken total aufgefüllt. Ein paar Esel konnten sich aus einem Stall selber befreien und retteten sich auf den höchsten Punkt der Weide. Die Bewohner waren glücklicherweise nicht anwesend.
Viele Häuser sind beschädigt und einsturzgefährdet. Sie sind jetzt gesichert, aber was mit ihnen geschieht, wird erst im nächsten Frühjahr entschieden.
Viele Häuser entlang des Baches sind stark beschädigt und unbewohnbar. Zum Teil werden sie gestützt, damit sie nicht zusammenbrechen, aber die Leute dürfen nicht wieder einziehen. Im nächsten Frühjahr wird entschieden, was mit den Gebäuden geschieht. In der Zwischenzeit leben die Betroffenen in Ferienwohnungen. Doch bei allfälligen Vermietungen müssen sie in eine nächste freie Ferienwohnung ziehen. Es gibt Familien, die seit Ende August bereits drei- bis viermal umgezogen sind. Aber dankbar sind alle, dass sie überlebt haben. Es gab nur zwei Leichtverletzte.
Der Mann im Gespräch mit Claire-Lise erzählt, dass er bereits viermal die Ersatzwohnung wechseln musste. Er hofft, dass er möglichst bald wieder in sein eigenes Haus zurückkehren kann. Und doch sagt er immer wieder, «es ist wie es ist» und betont, wie viel Glück sie alle doch hatten, dass niemand gestorben ist.
Claire-Lise hatte Glück. Das Holzhaus, in dem sie wohnt, liegt im unteren Bereich nahe der Kantonsstrasse und steht auf einem Steinsockel. Eine Betonrampe führt zum Eingang. Diese hatte das Haus schon bei der Flut vor zehn Jahren geschützt und jetzt wieder. Das Wasser schwappte wohl die schräge Rampe hinauf, floss aber auch wieder hinunter und hinterliess eine dicke Schlammschicht. Nur der Keller mit dem Heizöltank füllte sich mit 130 Zentimeter hohem Schlamm. Doch der Tank und auch das Haus blieben intakt.
Jetzt im November führt der Wasserfall kaum Wasser. Dunkle gelbliche Spuren sind sichtbar, wo ein Teil der Felswand abbrach. 60’000 Kubikmeter Fels, Gestein und Baumstämme kamen herunter, die das vor zehn Jahren erstellte Auffangbecken, das für 12’000 Kubikmeter berechnet war, nur zum Teil auffangen konnte. Und doch bewahrte es Brienz vor einer noch grösseren Katastrophe mit Toten und Verletzten.
Die Evakuierung verbrachte Claire-Lise während drei Wochen bei Freunden. Den Mitbetroffenen gegenüber fühlt sie sich wie schuldig, weil ihr Zuhause verschont geblieben ist. Sie durfte zurück, während viele noch immer auswärts logieren müssen. Die Gemeinde entscheidet im nächsten Frühjahr, nach umfassenden Abklärungen, was geschieht, ob Häuser abgerissen werden müssen, um dem Milibach den Platz zu verschaffen, den er so vehement fordert.
Der Milibach führt derzeit kaum Wasser, er muss sich wohl auch erholen. Die Bäume haben überlebt.
Zur Frage, warum sie aus Brienz nicht wegzieht, wo der Berg den Menschen jederzeit gefährlich werden kann, meint Claire-Lise: «Ich bin hier heimisch geworden. Man kennt sich, man hilft einander. Ich bin hier fest verwurzelt wie die Bäume unten neben dem Bach, die dem Wind standhalten und die Flutkatastrophen überlebt haben.»
Titelbild: Claire-Lise Vuilleumier auf der Terrasse neben der Brienzer Kirche.
Fotos: Claire-Lise Vuilleumier und rv
Das Wissensmagazin «Einstein» auf SRF 1 berichtet mit detaillierten Hintergründen zur Unwetterkatastrophe in Brienz BE, hier finden Sie den Link dazu.
Bin über die Namenssuche auf diese Webseite und den Artikel gestossen. Meiner Namensvetterin Claire-Lise wünsche ich viel Kraft und Zuversicht bei der verbleibenden Aufräum- und Putzarbeiten und meiner zweiten Namensvetterin Ruth danke ich für den sehr interessanten Artikel.
Beste Grüsse aus Alpnach.
Philippe Vuilleumier
Für die Betroffenen von Umweltkatastrophen ist diese Erfahrung einschneidend und sie kann das Leben von Familien und Siedlungen nachhaltig verändern.
Doch sollten wir auch an diejenigen denken, die weltweit durch die Klimaveränderung alles verloren und keine Hilfen ihrer Regierungen oder privater Versicherungen erhalten und keine Möglichkeit haben, eine neue Existenz aufzubauen und deshalb in Armut und Elend leben oder ihre Heimat für immer verlassen müssen, um zu überleben.
Dass unsere Berge durch auftauende Permafrostböden immer brüchiger werden und die abschmelzenden Gletscher durch Wassermassen tiefer liegende Wohnsiedlungen bedrohen, ist leider eine Tatsache aber nicht neu. Neu ist das Tempo, das durch das Verhalten der reichen industrialisierten Länder wie die Schweiz forciert wird und dadurch das Klima in nie dagewesenem Ausmass aufgeheizt und Felsstürze, Stürme, Starkregen und Überschwemmungen, grosse Hitze, dadurch Dürre und Waldbrände begünstigt werden.
Wir sollten die zunehmenden Umweltkatastrophen endlich als Warnung verstehen und dringend unsere Lebensweise in Frage stellen und nachhaltig verändern. Noch mehr Autobahnkilometer bedeuten noch mehr Autoabgase (grösster Luftverschmutzer) und anstatt die Auslandhilfe zu kürzen, sollten wir den bedürftigen Menschen vor Ort helfen, dass sie in ihren Ländern anständig leben und für sich selber sorgen können.
Sollten die weltweiten Flüchtlingsströme wegen Umweltkatastrophen und mangelnder Unterstützung vor Ort zunehmen, werden wir das auch in Europa und bei uns zu spüren bekommen.