1899 wurden Les Grands Magasins Jelmoli eröffnet, Ende Februar 2025 wird Jelmoli geschlossen. Dazu hat Sabine Gisiger den interessanten Dokumentarfilm «Jelmoli 2014 – Biografie eines Warenhauses» gedreht und mit dem Warenhaus an der Zürcher Bahnhofstrasse einige Kapitel Schweizergeschichte geschrieben.
Kaum ein Ort symbolisiert den Aufbruch in die Moderne mit ihren Erwartungen und Verwerfungen besser als das Warenhaus. Es steht für den Weg hin zu einer Gesellschaft, in der Bedürfnisse befriedigt, aber auch geschaffen werden. In Zürich läutete Franz Anton Jelmoli 1899 die neue Epoche mit dem Bau eines spektakulären Glaspalastes an der Bahnhofstrasse ein. Exakt 125 Jahre später schliesst Jelmoli seine Pforten, und es ziehen stattdessen Manor und Büros ein.
Der Film «Jelmoli – Biografie eines Warenhauses» von Sabine Gisiger setzt sich aus biografischen Erfahrungen Einzelner zusammen: von der Gründerfamilie über die Familien der Hauptaktionäre bis hin zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die jahrzehntelang und mit Herzblut im Jelmoli gearbeitet haben und sich noch heute stolz als Jelmolianerinnen und Jelmolianer bezeichnen. Die persönlichen Erzählungen aus dem Warenhaus und der reiche Fundus von Archivmaterial spiegeln grosse Themen des 20. Jahrhunderts: Urbanisierung, Kolonialismus, Frauenemanzipation, Antisemitismus, Jugendrevolte und schliesslich Globalisierung und Digitalisierung, die das Ausstellen von Waren aus aller Welt, die «Kolonialwaren», unter einem Dach am Ende obsolet gemacht haben.
Die Biografie des Warenhauses bringt einige neue, hoch interessante Kapitel Schweizergeschichte an den Tag. Der Film rollt die Geschichte des Hauses auf, von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis heute, also der Konsumgesellschaft Zürichs: informativ, unterhaltsam und zum Denken anregend. Denn damit hängt viel mehr, als wir vermuten, zusammen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts war es eine Etappe der Emanzipation, in der Frauen als Verkäuferinnen und Kundinnen aktive Subjekte wurden. In den Dreissigerjahren greifen Schweizer Nationalisten Jelmoli an, weil der Leiter, Sigmund Jacob, Jude ist. In den 60ern wird die Jugend zur begehrten Zielgruppe. Und so bietet uns «Jelmoli» eine interessante Geschichtsstunde, auch für jene, die die Konsumwirtschaft fragwürdig finden.
Der grossartig recherchierte, brillant gestaltete Film muss, so meine Meinung als ehemaliger Lehrer, unbedingt in aktueller Form, mit dem nötigen didaktischen Material und den geeigneten Methoden, in den Schulen Eingang finden.
Das Jelmoli-Haus um das Jahr 1950
Eine Biografie in sieben Kapiteln und einem Epilog
Der immense Stoff wird – so wohl das ästhetische Konzept – mit Menschen, ihren Biografien, Aussagen und Erlebnissen, Abbild, Vorbild und Sinnbild einer umfassenden gesellschaftlichen Wirklichkeit und durch die künstlerische Leistung der Regisseurin und ihres Teams von Szene zu Szene mehr und mehr zu einem Teil unserer Biografie.
Die Gliederung umfasst nach einer Einstimmung folgende Kapitel: 1. Triumph der Moderne, 2. Kolonialismus, 3. Expansion, 4. Anfeindungen, 5. Kaufrausch, 6. Globalisierung, 7. Der Anfang vom Ende und einen Epilog.
Die Weltpremiere fand am 17. November 2024 im Filmpodium Zürich statt; das Kino war bis auf den letzten Platz besetzt mit Jelmolianerinnen und Jelmolianern, wie die versammelten Besucherinnen und Besucher sich noch heute stolz nennen. Es war für die meisten ein schönes und gleichzeitig trauriges Fest! Ein Wiedersehen mit freudigen Begrüssungen, begeistertem Austausch, lebhaftem Erinnern, spontanen Umarmungen und Küssen.
Drei der 5200 Jelmolianerinnen und Jelmolianer
Gertrud Gnädinger, Verkäuferin Mode und Schmuck im Jelmoli, 1969 – 2003
«Ich bin eine Jelmolianerin und war stolz darauf. Immer wenn mich jemand fragte: «Sie arbeiten im Globus?», habe ich gesagt: «Nein, Gott sei Dank arbeite ich im Jelmoli.»»
Nana Konadu Agyeman Rawlings, Innendekorateurin UTC und Jelmoli, 1972 – 1979
«Ich war sicher, Jelmoli überlebt meine Enkel und Urenkel. Er steht für eure Geschichte, auch die nächste Generation hätte das sehen sollen.»
Hans Bold, Kreditabteilung Jelmoli, 1953 – 1999
«Plötzlich konnte man keine Schnürsenkel mehr kaufen. Die Tierhandlung verschwand, es gab keine Teppiche mehr – da wurde für jedermann ersichtlich, dass das Warenhaus eigentlich kein Warenhaus mehr war.»
Die Regisseurin
Sabine Gisiger wurde 1959 in Zürich geboren, studierte Geschichte, schloss 1988 mit einer Dissertation über die Geschichte der Dienstmädchen ab. 1989 liess sie sich am Schweizer Fernsehen zur Fernsehjournalistin ausbilden und arbeitete jahrelang als Reporterin im In- und Ausland. Seit 1990 realisiert sie als freie Filmschaffende Dokumentarfilme. 2000 erregte ihr Dokumentarfilm «Do it», den sie gemeinsam mit Marcel Zwingli drehte, internationales Aufsehen und erhielt den Preis für den besten Schweizer Dokumentarfilm. Es folgten weitere Dokumentar- und Kinofilme sowie zahlreiche Auszeichnungen. Seit 2002 unterrichtet Sabine Gisiger als Professorin für Dokumentarfilm an der Zürcher Hochschule der Künste, sie war Mitglied der Eidgenössischen Filmkommission und ist Mitglied der Schweizer und der Europäischen Filmakademie.
Drei Fragen an Sabine Gisiger, übernommen von arttv
Sabine Gisiger, wie sind Sie auf das Thema Jelmoli gekommen?
Als ich zu Beginn des Jahres 2023 las, dass Jelmoli zugeht, hat mich das, wie viele andere auch, irgendwie traurig gemacht – Jelmoli gehörte für mich zu Zürich. Bei einer unverfänglichen Google-Recherche habe ich gelesen, dass Jelmoli sein gesamtes Firmenarchiv dem Zürcher Stadtarchiv übergeben hat. Das Warenhaus wurde 1899 eröffnet – da waren also Dokumente, Bilder, Kataloge und Werbefilme aus 125 Jahren Geschichte, ein Schatz, dem eine Historikerin wie ich nicht widerstehen kann.
Was für Erinnerungen haben Sie persönlich an das Warenhaus?
Als Kind in den 60ern liebte ich es, mit meiner Mutter in den Jelmoli zu gehen, auf der neuen Rolltreppe zu fahren und – das gab es nur im Jelmoli – an der Milchbar Milch mit Vanillegeschmack zu trinken. In den 70er-Jahren liebte ich den Spotlite im 2. Stock, da gab es alles an Schmuck, Kleidern, Heftli und Gadgets, die wir bisher nur von Plattencocers kannten. Das war ein richtiger Treffpunkt für die Zürcher Jugend.
Gab es bei den Recherchen etwas, was Sie erstaunt, erfreut oder betroffen gemacht hat?
Da gab es viel mehr, als ich mir anfangs hätte träumen lassen! In der Geschichte des Jelmoli spiegelt sich die soziale und kulturelle, aber auch die politische Geschichte Zürichs und der Schweiz. Der Aufbruch in die Moderne, die Emanzipation, die Ära des Kolonialismus, der Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit und der wirtschaftliche Boom nach dem 2. Weltkrieg zum Beispiel. Und natürlich spiegelt sich im Jelmoli auch der Weg hin zu einer Gesellschaft, in der Bedürfnisse nicht nur befriedigt, sondern geschaffen werden.
Regie: Sabine Gisiger, Produktion: 2024, Länge: 75 min, Verleih: Dschoint Ventschr