Sprechen Sie noch wie Ihre Grosseltern? Der neue Dialäktatlas zeigt auf, wie sich die schweizerdeutschen Dialekte in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Das interessante Werk kann kostenlos aus dem Internet heruntergeladen werden.
Wie haben sich Aussprache, Wörter, Grammatik und die Sprache im Alltag verändert? Welche Unterschiede gibt es zwischen den Regionen und Generationen? Mit Hilfe von über 500 Karten werden in einem neuen Sprachatlas 166 Phänomene fundiert und zugleich leicht verständlich vorgestellt. Der „Dialäktatlas“ öffnet ein Fenster zur Vielfalt und zum Wandel der Dialektlandschaft des Schweizerdeutschen.
Entstehung und Methode
Das Werk ist das Ergebnis des Nationalfondsprojekts „Language Variation and Change in German-speaking Switzerland: 1950 vs. 2020“ Das Projekt hatte eine Laufzeit von fünf Jahren (September 2019 bis August 2024). Der wissenschaftliche Titel des Projekts hiess «Swiss German Dialects Across Time and Space» – kurz SDATS.
In einer Kombination von traditioneller Feldforschung und modernen Technologien wie Smartphone-Apps und Zoom wurden Sprachdaten von über 1000 Personen von Basel bis Bosco-Gurin und von Salgesch bis Diepoldsau gesammelt und analysiert. An der Erstellung des Werks haben knapp dreissig Personen mitgewirkt.
2019 begann das Team um Prof. Adrian Leemann an der Universität Bern mit einer Studie: Über 1000 Probandinnen und Probanden aus 127 Orten in der Deutschschweiz wurden über ihre Mundart befragt – die Hälfte von ihnen über 60, die anderen zwischen 20 und 35 Jahre alt. Ergänzt wurden diese Daten mit jenen aus dem historischen «Sprachatlas der deutschen Schweiz» von 1962. Damals waren vor allem ältere Menschen mit Jahrgängen zurück bis 1870 befragt worden. Im neuen «Dialäktatlas» kann man also die Entwicklung der Dialekte in den verschiedenen Regionen über drei Stufen hinweg verfolgen, anhand flächig eingefärbter Schweizerkarten.
Die Hauptziele des Atlas
Das Werk will die heutigen Variation und den Wandel der schweizerdeutschen Dialekte aufzeigen. Die Karten im Buch sind mit Tonaufnahmen verlinkt, welche die regionalen Unterschiede lebendig erfahrbar machen. Zweck des Projekts war es zu erforschen, wie sich die schweizer-deutschen Dialekte im Laufe der letzten Jahrzehnte verändert haben und welche sozialen Faktoren eine Rolle bei diesem Wandel spielten. Zielgruppe ist ein gebildetes Laienpublikum. Einige Beispiele:
Schauen
„Das Verb schauen wurde im Atlas auch bezüglich der deutschen Alltagssprache geprüft. So ergibt sich ein deutliches Raumbild: Im Norden Deutschlands hört man kuck, in der Mitte und im Südwesten Deutschlands guck, in Bayern sowie in Österreich wird schau gesagt. Die Variante lueg, wie in vielen Teilen der Deutschschweiz, hört man auch im Elsass, Allgäu und in Vorarlberg.“
Glungge
An Vielfalt und Kreativität mangelt es den schweizerdeutschen Bezeichnungen für die Pfütze nicht. „Obwohl das standarddeutsche Wort Pfütze in der Deutschschweiz immer öfter auch im dialektalen Sprachgebrauch Eingang findet, treffen wir über die Generationen hinweg noch zahlreiche andere Begriffe an,“ bilanzierte Projektleiter Adrian Leemann Anfang Dezember anlässlich eines Vortrags in der Berner Universitätsbibliothek.
Woher kommen die Varianten?
„Die standardnahe Pfütze sowie Butz und Bütze finden ihren Ursprung im lateinischen puteus ‘Grube, Brunnen’. Zwei Varianten, die sich bis zu mittelalterlichen Begriffen für ‘Pfütze’ zurückverfolgen lassen, sind die Lache von ahd. lahha und die Gülle / Gille von mhd. gülle. Die Gülle / Gille verwies historisch auch auf einen Sumpf oder ein schmutziges Gewässer. Die heutige Bedeutung ‘landwirtschaftlicher Dünger’ kam erst später hinzu. Die Gumpe ist wohl auf das keltoromanische cumba ‘Bodensenke, Tümpel’ zurückzuführen, die Gunte auf die zugehörige Ableitung cumbeta.“
„Bei den Wörtern Glungge / Glunte hat sich womöglich die Gumpe vermischt mit dem lautmalerischen Verb glungge, das den Klang beschreibt, der entsteht, wenn etwas ins Wasser plumpst. Die ähnlich klingenden Glutta, Plumpe und Glumpe sind wohl auch dieser Gruppe zuzurechnen. Südere(te) und Gu(u)dle sind zu einem Verb zu stellen: südere ‘unordentlich mit Wasser hantieren, sich dabei besudeln’ bzw. gudle ‘Flüssigkeiten aufrühren, plätschern’.“
Zwiebel
„Der Begriff Zibele stammt vom lateinischen cepul(l)a ab. Das undurchsichtige (das heisst nicht einfach herleitbare) Wort Zibele wurde bereits im Mittelalter zu Zwibolle umgedeutet, zusammengesetzt aus den Bestandteilen zwi- ‘doppelt, zwei’ und bolla ‘Knospe, kugelförmiges Gefäss’. Daraus entstand die Zwi(i)b(e)le. In manchen Gebieten vereinfachte man das Wort zu Bölle oder Bülle, regional – etwa im Kanton Zürich – auch mit kurzem l als Böle bzw. Büle.“
Rööschti
Was auf der Liste unserer Nationalgerichte niemals fehlen darf, ist die Rööschti. Dieses Gericht besteht aus Kartoffeln, die gebraten werden. Die Mahlzeit kann beliebig ergänzt werden mit Spiegeleiern, Speck, oder sie kann als Beilage dienen. Früher wurden die Kartoffeln für Rööschti geschnitten, heute werden sie eher mit einer Röstiraffel gerieben.
Woher stammen die Begriffe?
„Die Bezeichnungen lassen sich in zwei Typen einteilen: einerseits Einwortbezeichnungen, die von einem Verb des Kochens abgeleitet sind, und andererseits Bildungen aus einer Bezeichnung für Kartoffeln und dem Partizip eines Zubereitungsverbs. Zu letzterer Kategorie gehören Begriffe wie praatnigi, präätlet und prootni ‘gebratene’ Härdöpfel. Gleich verhalten sich prägleti Härd öpfel zum Verb brägle, einem Synonym von bräätle. Gwermt oder gchochet(i) Härdöpfel beschreiben den Kochvorgang etwas unpräziser. Die Brausi und Bröisi kommen vom Verb brause oder bröise ‘anbrennen’, das zu brennen gehört, die Rööschti von rööschte ‘rösten’.“
Wie sagte man früher?
„Früher existierte eine ausgeprägte Variantenvielfalt. Einwortbezeichnungen hörte man v. a. im Westen mit Ausnahme des Wallis: Rööschti war zu jener Zeit hauptsächlich im Kanton Bern dominant. In Freiburg sowie im Simmental und Saanenland wurde Brägel / Brägu gesagt und vom Fricktal bis ins Laufental prägleti Härdöpfel. Der Ausdruck Brausi oder Bröisi war vor allem in den Kantonen Luzern und Aargau, aber auch in Nidwalden zu hören. Im Wallis, in Teilen der Zentralschweiz und im Osten hörte man v. a. Bezeichnungen für Kartoffel plus das Partizip des Zubereitungsverbs: praate(t), praatni(gi), präätlet(i) oder auch gchochet(i) Härdöpfel.“
Müntschi
Laut Wikipedia gibt es zwölf Arten, wie man sich küssen kann. Und in der Deutschschweiz gibt es ähnlich viele Arten, den Kuss sprachlich zu bezeichnen. Woher stammen die Varianten?
„Die Form Chuss und ihre standarddeutsche Entsprechung Kuss gehen zurück auf ahd. kus. Dieses Wort hat wahrscheinlich lautmalerischen Ursprungs. Die Variante Schmutz bezeichnet natürlich keinen Hausstaub, sondern zielt ebenfalls auf die lautmalerische Umsetzung eines Kusses ab. Mit diesem Wort verwandt sind die Varianten Schmatz oder Schmatzer, die ab und an genannt werden, jedoch auf den Karten nicht dominant sind. Müntschi sowie ähnliche Varianten wie Muntsi sind abgeleitet vom Wort Mund. Die Verkleinerungsform deutet vielleicht auf die Zuspitzung und Verkleinerung des Mundes während des Küssens hin.“
Küssen kann zu einer Ansteckung führen. Wenn du erkältet bist, hast du den Schnuderi? Den Pfnüsel? Oder etwa den Ubärgang? Ein Gefühl, das uns allen vertraut ist: Die Nase läuft, der Kopf brummt und die Gliedmassen sind schwer. Das Schweizerdeutsche zeigt eine Vielfalt an Ausdrücken für dieses allzu bekannte Leiden. Woher stammen die Begriffe?
Schnupfen
„Die Gruppe Pfnüsel, Pnüsu, Pflüsel, vermutlich auch Chnüsel, geht auf mhd. pfniusel ‘Schnupfen’ zurück. Schnupfe und Schnu(u)ppe(r) auf mhd. snupfe. Schnüzer ist das Nomen von schneuzen, ahd. snūzen. Schnuderi ist eine niedliche Ableitung von Schnuder. Rüüm(m)e kommt vom Französischen rhume ‘Erkältung’. Die Variante Ubärgang könnte auf das Wetter zurückzuführen sein: Ursprünglich hat man bei einem Übergang von einem kurzzeitigen Wetterumschwung oder auch von einem vom Wetter ausgelöstem Unwohlsein gesprochen. Kataar ist entlehnt von griechisch katárrhūs, was ‘Herabfliessen’ bedeutet. Die Bezeichnung Flussfieber rührt vermutlich daher, dass die Nase fliesst.“
Da kann man nur noch Gsundheit wünschen.
Wer sich für den Atlas und weitere wissenschaftliche Publikationen zum Projekt interessiert, findet sie unter www.dialektatlas.ch. Das PDF kann kostenlos heruntergeladen werden. Die hier wiedergegeben Zitate/Erklärungen stammen aus dem Atlas.
Gedruckte Ausgabe
Dialektatlas, Adrian Leemann, Carina Steiner, Melanie Studerus, Linus Oberholzer, Péter Jeszenszky, Fabian Tomaschek, Simon Kistler, vdf Hochschulverlag AG, 2024, ISBN 978-3-7281-4183-5.