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Wie entsteht ein Dokumentarfilm

Vor ein paar Monaten fand im Sozialarchiv der Stadt Zürich eine verspätete Jubiläumsveranstaltung zum 50-jährigen Bestehen der AVA Scheiner AG statt, der Filmproduktion von Susanne und Peter Scheiner.

Kurzweilige, informative Filmszenen, solche, die schon 40 Jahre alt sind und immer noch aktuell, nie langweilig, aufgelockert durch witzige Bemerkungen sah ich. Jeder Film war anders. Als Beispiele des Schaffens von Susanne und Peter Scheiner zeigte sich die Breite ihrer Tätigkeit – und die Dokumentarfilme kommen noch dazu! Beim Zuschauen fragte ich mich, wie eigentlich so ein Film entsteht. Darüber habe ich mit Susanne und Peter gesprochen.

Dokumentarfilm oder Auftragsfilm

Susanne und Peter Scheiner unterscheiden streng zwischen einem Auftragsfilm und einem Dokumentarfilm. Während der Auftraggeber – sei es ein Unternehmen oder eine Organisation – von Anfang an über den Inhalt mitbestimmt, entscheiden Scheiners über den Inhalt eines Dokumentarfilms allein.

Bei einem Auftragsfilm ist das Budget Teil der Verhandlungen, daraus ergeben sich die weiteren Schritte. Ein Konzept von 2 – 3 Seiten wird dem Auftraggeber vorgelegt, mit ihm diskutiert, bis er einverstanden ist. Das eigentliche Drehbuch entsteht erst, wenn Budget und Projekt genehmigt sind und der Auftrag erteilt ist.

Für einen Dokumentarfilm müssen Susanne und Peter selbst Sponsoren oder Geldgeber suchen, sei es für Projekt und Drehbuch, für Dreharbeiten oder Postproduktion. Für ihre Dokumentarfilme haben sie nur sehr wenige Beiträge erhalten und die meisten Kosten selbst getragen.

Susanne und Peter Scheiner (Foto privat)

Grundsätzlich geht es bei einem Auftragsfilm darum, die Ziele des Auftraggebers zu verstehen und so umzusetzen, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer später die «Botschaft» verstehen. Bei einem Dokumentarfilm, in dem Susanne und Peter ihre eigenen Themen ins Bild bringen wollen, lassen sie sich oft von ihrer Inspiration leiten und folgen dann dem Verlauf der Situationen und Geschehnisse, in der Gestaltung sind sie frei.

Wie entsteht ein Drehbuch?

Susanne, ursprünglich Gymnasiallehrerin, ist die Fachfrau fürs Drehbuch. – Peter versteht sich als Filmer, hat seit seiner Jugend mit der Kamera gearbeitet. – Ein Drehbuch, erklärt mir Susanne, hat drei Kolonnen: Links stellt sich Susanne das Bild vor, das an der entsprechenden Stelle im Film steht, sie beschreibt die Situation, die Kamera-Einstellung. Rechts notiert sie alles, was an Sprache vorkommt: direkte Rede, Kommentare u.a. Die mittlere Kolonne wird nicht immer von Anfang an definiert, dort sind alle akustischen Beiträge vermerkt.

Während also in einem Auftrags-Drehbuch alles präzise niedergeschrieben ist, bleibt im Dokumentarfilm vieles offen. «Wir wissen nicht, was auf uns zukommt», sagen beide. Für ihren Film «Aus Galizien in den Aargau» rekognoszierten sie zuerst vor Ort, dann wurde unter Peters Leitung gedreht, dann schauten sie das ganze Material durch, alles spontan gefilmte Aufnahmen.

Damit filmte Peter Scheiner früher. Zelluloid-Filmstreifen aus vergangenen Zeiten Foto: Jan Mesaros / pixabay.com

Erst dann begann Susanne, ein Drehbuch zu schreiben. Danach überlegten sie sich, was sie in der Schweiz noch aufnehmen müssten. Aus all dem erstellte Susanne ein Drehbuch, anschliessend entstanden Dramaturgie und Schnitt.

Im erwähnten Film begleitet Peter einen Verwandten von Susanne und Freund beider in seine alte Heimat, vormals Galizien bzw. ein Teil Polens, heute Ukraine. Das Besondere ergab sich durch einen Zufall: Im Zug lernten sie einen Einheimischen kennen, einen Bandera-Anhänger. Dieser Mann und der Protagonist begannen ein angeregtes Gespräch – und Peter erhielt die Erlaubnis des Unbekannten, ihn zu filmen. Peters Gespür für die Chance dieser Begegnung und das Glück, dies filmen zu dürfen, führten zur Intensität dieser Szene. – Hier zeigt sich, was Peter mehrmals betont: «Wie ein Dokumentarfilm entsteht, ist nicht planbar.» Vor allem nicht bei einem so gewissenhaften Filmer wie ihm.

Wann ist ein Dokumentarfilm authentisch

Peter betont, ein ausgefeilter Dokumentarfilm dürfe nicht «gemacht» wirken. Ein Hauptanliegen ist für ihn, eine (quasi) dokumentarische Szene zu schaffen. Wenn der Regisseur dreinredet, beeinflusst er damit automatisch den Protagonisten. Dieser steht dann unter einem gewissen Druck, ist dem Regisseur «ausgeliefert».

In Peters Augen ist das nicht mehr authentisch. Er macht es lieber anders: Er lässt die Leute erzählen, bis sie nicht mehr darauf achten, was sie sagen. – Ob das immer so funktioniert, steht auf einem anderen Blatt. Denn wie spontan spricht ein Protagonist, wenn er weiss, dass er dabei gefilmt wird. Die einen fühlen sich als Selbstdarsteller, die anderen üben Selbstzensur.

Peter Scheiners erste Kamera (Foto mp)

Was den Unterschied zwischen einer Reportage und einem Dokumentarfilm angeht, sind beide der Meinung, dass eine Reportage nur «rapportiert», es ist «der reine Film». Durch eine Vertiefung, etwa ein Gespräch oder ergänzende Einstellungen, wird daraus ein Dokumentarfilm. Eine Reportage braucht kein Drehbuch, ergänzt Susanne, ein Drehbuch hält fest: «Was will ich zeigen».

Peters Film «Ende der Erinnerung?» entstand anders, erzählen mir die beiden: Überlebende des Holocaust hatten 1995 einen Verein gegründet, die sog. «Kontaktstelle für Überlebende des Holocaust in der Schweiz». Aus Altersgründen beschlossen sie, sich nach wie vor zu treffen, den Verein aber aufzulösen (da Statuten etc. zu viel Arbeit verursachten). Das EDA lud daraufhin im Januar 2011 die Mitglieder und Angehörigen ins Bundeshaus ein; es wurden Reden gehalten, Musik gespielt und ein Apéro serviert. Die Auflösung wirkte wie eine Gründungsfeier. Obwohl das EDA nicht mitzahlte, engagierte Peter einen Kameramann, liess den skurrilen Anlass filmen und schliesslich entstand das Werk «Ende der Erinnerung?».

Sehr berührt war Susanne, als sie die Trauer sah, die Johannes erfasste, als er erfuhr, dass im Haus, in dem er während seiner Jugend gewohnt hatte, vorher Juden gelebt hatten, die ermordet worden waren. Dieser Film «Johannes und seine Gedenkstätte» wird in einer gekürzten Fassung am 24. Januar, 12:10 Uhr auf 3sat gezeigt.

Wann ist ein Film fertig?

Nie! – Kurz gesagt: Wenn der ganze Film gedreht, geschnitten und vertont ist, dann ist er fertig. Allerdings sind heutzutage mit der digitalen Technik Änderungen oder Ergänzungen immer möglich. Susanne sagt: «Ein Film ist fertig, wenn ich beim Anschauen sehe, dass alles drin ist, was ich verarbeiten wollte. Dann wende ich mich gern einem neuen Thema zu.»

Peter legt Wert darauf, dass ein Film nicht einfach «fertig» ist, sondern dass ein Stück Geschichte dargestellt wird und diese weiterhin wirken wird. Peter will auch den Fortgang der Geschichte filmisch dokumentieren, «von der Vergangenheit in die Zukunft». – Ich denke, Peter wird filmen, solange er eine Kamera halten kann.

Susanne und Peter, herzlichen Dank für das Gespräch.

AVA Scheiner AG  – Dort auch Angaben zu den erwähnten Filmen
Zu Besuch bei zwei Filmemachern

Titelbild: Symbolbild (Gerd Altmann / pixabay.com)

 

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