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Über die Hackordnung

Als vier- fünfjähriger Bub sass ich oft am Fenster unserer Wohnstube und schaute stundenlang auf den grossen Hühnerhof, der von einem mächtigen Geflecht umhagt war. Besonders spannend war die Fütterung. Trat Vater durch die Öffnung in den Hof, drehten alle Hühner wie auf Kommando den Kopf. Der Hahn stellte seinen Kamm. Warf Vater die Körner in die Mitte, stürzten die Hühner gackernd zum Futterplatz, der Hahn mischte sich erhobenen Hauptes ein und schubste Hühner weg, die ihm im Weg standen. Ihm taten es die fetten Hühner gleich. Die schmalen, dünnen Hühner und der schmächtige kleine Hahn versuchten am Rand der Schar Körner zu erwischen. Das war ein Ereignis und es schien, dass ich intuitiv erfasste, was sich da abspielte.

Als ich später Studien des Forschers Konrad Lorenz las, der das Verhalten der Gänse, aber auch dasjenige der Hühner erforschte, spielte der Begriff Hackordnung eine zentrale Rolle. Sofort meldeten sich die Bilder aus der frühen Kindheit und ich sah, wie die Hühnerschar sich bei der Fütterung verhielt. Der Hahn als der Mächtigste der Gruppe wollte sich zuerst satt fressen, rund um ihn taten sich die starken, wohlbeleibten Hühner gütlich und die schwächeren mussten mit dem zufrieden sein, was übrigblieb. Dieses Verhalten war also die Hackordnung. Ich konnte den Begriff verallgemeinern und auf ein ähnliches Verhalten von anderen Tieren anwenden und auch bei den Menschen finden.

Zugleich löst diese Erinnerung für mich ein Problem, das mich jahrelang beschäftigt hatte. Der französische Philosoph Henri Bergson hat einen Begriff der Zeit kreiert, den er La Durée nennt. Es war mir nicht möglich, diesen Zeitbegriff mit einfachen Worten zu erklären. Ich sagte mir, die Vergangenheit rast zur Gegenwart und huscht sofort weiter in die Zukunft. Du kannst die Zeit gar nicht als Dauer fassen. Sie ist in beständiger Bewegung.

Als ich nun wieder Bergson las, fielen mir Geschichten ein, die sich mir früh eingeprägt hatten so wie eben die Bilder vom Hühnerhof. Bergson zählt solche neuen, starken Eindrücke zu den reinen und organischen Erinnerungen. Die täglichen, die flüchtig sind zu den mechanischen und in der alltäglichen Wiederholung und in ihrer Fülle Gewohnheiten bilden. Sie aber sind als einzelne vergessen und unbewusst geworden. Die reinen aber, die sich der Seele wie der frische Schnee dem Auge einprägen, bleiben ein Leben lang als einzelne wichtige Erinnerungen, die die Zeit überdauern. Sie haben eine lebenslange Durée, die stets da ist, wenn das Leben fragt, wohin der Weg gehen soll, wogegen die mechanischen in den Gewohnheiten aufgehoben sind

Solche reinen Erinnerungen besitzen eine magische Bedeutung für das Leben. Sie können positiv den Menschen beglücken, negativ aber auch belasten. Es können Bilder sein, mehr noch Worte, die nicht auszumerzen sind, vielleicht sogar in bestimmten Momenten wichtige Entscheidungen beeinflussten. Sie besitzen, wie der Philosoph schreibt, eine Dauer, La Durée.

So ist für mich Hackordnung zu einem bleibenden, stets abrufbaren Begriff geworden, der mir sinnlich, anschaulich die grosse Politik mit dem Hühnerhof vergleichen lässt. Dass da besondere Güggel hervorragen, braucht nicht beschrieben zu werden. Jeden Tag krähen sie und verkünden, dass die schönsten Federn sie zieren und sie mächtige Krallen haben. So ist mir der Hühnerhof zur Hackordnung des Welttheaters geworden.

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