Wenn Forschung eine gesellschaftliche Wirkung entfalten soll, müsse man über Formen der Vermittlung und des Austauschs nachdenken, sagt Delphine Roulet Schwab. Seit Januar ist sie Präsidentin der a+ Swiss Platform Ageing Society.
Delphine Roulet Schwab holt das Thema Alter aus der Tabuzone. Die ausgebildete Psychologin und Professorin an der Haute Ecole de la Santé La Source (HES-SO) in Lausanne lässt keine Gelegenheit verstreichen, um auch jüngere Generationen für Altersfragen zu sensibilisieren. «Man denkt immer: Die Alten, das sind die anderen», sagt sie. «Dabei ist es nur eine Frage der Zeit, und die Alten sind wir.»
Delphine Roulet Schwab an der Haute Ecole de la Santé La Source in Lausanne, Septembre 2022. (Foto © Anne-Laure Lechat)
Als Präsidentin von GERONTOLOGIE CH, der nationalen Fachorganisation für Fachleute im Altersbereich, ist es Roulet Schwab gewohnt, zu vermitteln. Seit Januar 2025 ist sie auch Präsidentin der a+ Swiss Platform Ageing Society, einem Netzwerk unter dem Dach der Akademien der Wissenschaften Schweiz. Die Plattform wurde 2017 gegründet, um die Umsetzung der WHO-Strategie «Global Strategy and Action Plan on Ageing and Health» in der Schweiz zu unterstützen. Künftig will sie ihre Dialog- und Vernetzungsfunktion noch dezidierter wahrnehmen.
Wir treffen Roulet Schwab im Co-Working Space Effinger in Bern, wo sie eben an einer neuen Kommunikationsstrategie für die Plattform mitgewirkt hat. Auch nach einem acht-stündigen Arbeitstreffen wirkt sie frisch und aufgeräumt.
Lea Haller: Sie haben Psychologie studiert und sich früh für die Altersforschung entschieden. Wie kamen sie als junge Frau auf diese Idee?
Delphine Roulet Schwab: Während meines Studiums habe ich in einem Alters- und Pflegeheim gearbeitet, als Pflegekraft ohne Ausbildung. Das hat viele Fragen aufgeworfen. Wie kann ein würdiges Alter gelingen? Weshalb werden Pflegende zu Misshandelnden, meist ohne sich dessen bewusst zu sein? Ich habe dann meine Masterarbeit in Psychologie zum Thema Misshandlung im Alter geschrieben. Das Thema Alter liess mich nicht mehr los. Ich arbeite nun seit mehr als fünfundzwanzig Jahren in diesem Bereich.
Gab es ein Schlüsselereignis für diese Frage der Verletzlichkeit im Alter?
Ich besuchte im Studium einen Kurs zum Thema Kindsmisshandlung. Und da sagte der Dozent, das Thema betreffe natürlich auch andere Bevölkerungsschichten, etwa ältere Menschen. Ich dachte mir: Darüber spricht niemand. Das interessiert mich.
In der Schweiz beschäftigen sich zahlreiche Organisation mit dem Alter. Sie sind neu Präsidentin der a+ Swiss Platform Ageing Society, einem Netzwerk, das von den Akademien der Wissenschaften Schweiz betrieben wird. Welche Rolle spielt die Plattform in der heterogenen Landschaft der Altersorganisationen?
Wir haben in der Schweiz ein bisschen ein Silodenken: Jede Organisation hat ihren eigenen Zweck und bedient ihre eigene Community. Hier kann die Plattform vernetzend und koordinierend wirken. Viele Organisationen behandeln das Thema Alter zudem in erster Linie aus gesundheitlicher und sozialer Perspektive. Es geht um Fragen der Betreuung, Begleitung und Pflege im Alter. Dabei betrifft das Thema zahlreiche andere Bereiche, etwa das Wohnen oder die Mobilität. Wir brauchen dringend einen ganzheitlichen Zugang, um die Herausforderungen einer schnell alternden Bevölkerung zu adressieren. Die Plattform Ageing Society kann hier zwischen der akademischen Forschung, der Praxis und der Politik vermitteln und den Dialog fördern. Sie kann für bestimmte Themen sensibilisieren und sich grundsätzlich für die Lebensqualität älterer Menschen einsetzen.
Delphine Roulet Schwab und Lea Haller im Co-Working Space Effinger in Bern, Januar 2025 (Foto © Romaine Farquet).
Kommen Erkenntnisse aus der Forschung heute denn nicht im Praxisalltag an?
Die Forschung bleibt in der Regel ein abgeschlossener Kommunikationszusammenhang mit eigenen Codes und Adressaten. Forschende müssen Drittmittel einwerben, sie müssen publizieren, und sie müssen ihre Forschungsresultate an Tagungen im In- und Ausland präsentieren. Der Dialog mit Leuten aus Praxis, Politik und Verwaltung steht nicht im Vordergrund. Nach meiner Erfahrung gelangen gerade Forschungsresultate, die in hochkarätigen akademischen Zeitschriften erscheinen, selten in die Anwendungsbereiche. Wenn Forschung eine gesellschaftliche Wirkung entfalten soll, muss man also über Formen der Vermittlung nachdenken. Man muss Erkenntnisse in eine verständliche und konkrete Sprache übersetzen und mit der ausserakademischen Welt in einen Dialog treten. Doch dafür sind Akademikerinnen und Akademiker in der Regel nicht ausgebildet.
Die Plattform Ageing Society zählt heute hundert Partnerorganisationen aus Forschung und Praxis. Funktioniert hier der Dialog?
Ja, bis zu einem gewissen Grad. Aber die Plattform musste sich zuerst ein wenig finden und für sich klären, was genau ihr Ziel und ihr Mehrwert ist. Es gibt tatsächlich schon zahlreiche Organisationen und Initiativen im Altersbereich, und wenn man einfach macht, was andere auch schon machen, dann lohnt sich der Einsatz von Zeit und Ressourcen nicht. Wir haben deshalb im vergangenen Jahr einen Strategieprozess durchgeführt, um die Plattform neu auszurichten.
Was sind die wichtigsten strategischen Ziele?
Es sind vor allem zwei. Zum einen soll die Plattform noch mehr als in der Vergangenheit eine Drehscheibenfunktion wahrnehmen. Sie soll eine Vermittlungsinstanz sein, über die Informationen zirkulieren, ein Relais für Wissen und Netzwerke. Zum anderen hat sie eine Sensibilisierungs- und Bildungsfunktion. Wir haben oft stereotype Bilder des Alters im Kopf, die nicht der Realität entsprechen. Gerade für Politik und Verwaltung kann die Plattform wissenschaftsbasierte Daten vermitteln – damit politische Entscheidungen von aufgeklärten und gut informierten Leuten gefällt werden.
An welches Zielpublikum richtet sich die Plattform?
In erster Linie an Organisationen, nicht an einzelne Personen. Aber auch an politische Entscheidungsträger, etwa im Parlament oder auf Ebene der Kantone. Schliesslich an Institutionen der Bundesverwaltung, etwa das Amt für Sozialversicherungen oder das Bundesamt für Gesundheit – also auch an Institutionen, die man nicht unbedingt mit Altersfragen in Zusammenhang bringen würde, die aber Entscheidungen treffen und Entwicklungen in die Wege leiten, bei denen es wichtig wäre, die demografische Alterung zu berücksichtigen. Auch der Bildungsbereich gehört zu den Adressaten. In der Kommunikation soll dabei der Dialog im Zentrum stehen. Wir wollen nicht einfach Informationen an Empfänger vermitteln. Wir möchten Formate und Foren schaffen, in denen ein Austausch über Wissen und Erfahrungen stattfindet. Dieser Austausch muss immer in beide Richtungen gehen: von der Forschung in die Praxis und von der Praxis in die Forschung. Von der Praxis in die Verwaltung und Politik, und umgekehrt. Nur so können wir voneinander lernen.
Welche Rolle sehen Sie für sich als Präsidentin?
Ich sehe mich vor allem in der Rolle einer Repräsentantin und Fürsprecherin der Plattform. Ich kann der Plattform ein Gesicht geben, ich kann erklären, wer wir sind, ich kann unsere Aktivitäten, Angebote und Dienstleistungen bekannt machen.
Was sind Ihrer Meinung nach die grössten Herausforderungen für die Zukunft?
Wir müssen es schaffen, Fragen des Alterns aus dem sozialen und medizinischen Bereich herauszuholen. Das Altern betrifft alle Bereiche der Gesellschaft. Überall, wo man für die Zukunft plant, wo man Visionen entwickelt und Entscheidungen trifft, muss die Alterung der Bevölkerung berücksichtigt werden: in der Architektur, im Recht, in der Wirtschaft, in der Raumentwicklung, in der Energiepolitik. Das ist heute nicht der Fall. Wenn wir ans Alter denken, denken wir an Gesundheit, Begleitung und Betreuung, allenfalls noch an die Pensionierung und die AHV. Wir identifizieren die Altersfrage nicht als globale Frage, die alle Bereiche des Zusammenlebens betrifft. Wir müssen also die Perspektive ändern. Das ist allerdings gar nicht so einfach, da stehen wir uns oft selbst im Weg. Wir denken: Die Alten, das sind die anderen. Niemand hat Lust, sich selbst als alt oder als zukünftig alt zu betrachten. In den Medien spricht man etwa vom grauen Tsunami, der auf uns zukommt – als sei das eine äusserliche Naturgefahr. Dabei geht es um uns. Die Alten, das sind wir im Jahr 2045.
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Delphine Roulet Schwab ist Professorin an der Haute Ecole de la Santé La Source (HES-SO) in Lausanne und Präsidentin der a+ Swiss Platform Ageing Society
Lea Haller ist Generalsekretärin der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW)
Titelbild: Foto aus der Website der a+ Swiss Platform Ageing Society
Toll, chère Delphine. Voll und ganz einverstanden:
«Mainstreaming : Aufgrund der Bedeutung der demografischen Alterung für alle Politikbereiche ergibt sich die Notwendigkeit eines Mainstreaminges, bzw. der Berücksichtigung der Alterung in allen Politikbereichen und des Ziels, eine Gesellschaft für alle Altersgruppen zu schaffen»
Das schrieben unsere 7 Waisen vor > 17 Jahren ! Quo usuque tandem abouteris Patientin nostra, cf. Strategie für eine schweizerische Alterspolitik Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates Leutenegger Oberholzer vom 3. Oktober 2003, 29. August 2007, S. 3
Endlich wird das Thema «Altern in unserer Gesellschaft» in seiner ganzen Bedeutung ernst genommen. Für mich die wichtigste Aussage ist, dass sich die Forschung um alle, also auch mit den weiblichen Aspekten des Alterns beschäftigt und nicht nur, wie gewohnt, nur aus der männlichen Sichtweise.
Für das Gelingen der genannten Zielsetzungen der Altersforschung ist m.E. eine starke Vernetzung und ein regelmässiger Austausch mit allen Bereichen der Praxis, die im Zusammenhang mit dem Alter steht, unabdingbar, vor allem auch mit der Politik und der Wirtschaft. Aktuelle und gut verständliche Informationen an die Bevölkerung über diverse Medien, ist für das öffentliche Bewusstsein für das Thema ebenso wichtig.
Ich würde mir wünschen, dass im besonderen Ausmass auf die medizinischen und sozialethischen Ansprüche einer immer älter werdenden Bevölkerung eingegangen wird. Es ist nicht akzeptierbar, dass es heute kaum Hausärztinnen und Allgemeinmediziner mit ausreichender Sensibilität und Kenntnis für diese Altersgruppe gibt, nicht einmal bei den jüngeren, oder die eine Zusatzausbildung in Gerontologie aufweisen können. Für eine realistische Anamnese macht es einen gewichtigen Unterschied, ob es sich dabei um eine Frau oder einen Mann handelt und in welchem Lebensabschnitt die Patient:innen stehen. Alte Leute haben andere und legitime Ansprüche, dies sollte in allen Forschungsbemühungen berücksichtigt und komuniziert werden.
Vielen Dank…superartikel