Mit dem Stück «Freie Wahl» gibt das Berner Effingertheater höheren Schul- und Lehrlingsklassen Gelegenheit, sich im Theater mit Themen wie Demokratie, Terrorismus, Gerechtigkeit, Freiheit, Macht und ziviler Ungehorsam zu befassen.
Auf den ersten Blick klingt das Bühnenszenario utopisch. Doch angesichts der weltweit fortschreitenden Polarisierung könnte es schon bald Realität werden. Seniorweb hat eine Schülervorstellung mit Nachbesprechung besucht.
Die Ausgangslage des Theaterstücks «Freie Wahl»: Wir schreiben das Jahr 2040. Der Klimawandel ist weit fortgeschritten. Eine Koalition aus Ökologen und Nationalisten regiert das Land. Der Ruf nach Neuwahlen wird immer lauter. Als es so aussieht, die Regierung würde einlenken, kommt es zu einem Anschlag gegen «Ökos». Neun Jugendliche sterben. Der Notstand wird ausgerufen, Strassenproteste sind plötzlich illegal. Doch statt abzuebben, finden die Demonstrationen Zulauf.
Die Aussteigerin Denise (Julia Sewing) plädiert für militante Lösungen, für die Revolution.
Die Handlung: Die 16-jährige Schulabbrecherin Denise (gespielt von Julia Sewing) schliesst sich der militanten Protestbewegung an. Als eine Demonstration eskaliert, flüchtet sie in ihre ehemalige Schule. Dort trifft sie auf ihren Lieblingslehrer Bruno (gespielt von Aaron Frederik Defant). Dieser scheint mehr zu wissen über die Mutter von Denise, die mit einem Terroristen in Verbindung gebracht wird und deshalb im Gefängnis sitzt.
Cui Bono?
Aus der vermeintlich zufälligen Begegnung von Lehrer und Schülerin entwickelt sich im Lauf der einstündigen Vorstellung eine heftige Debatte über Freiheitsrechte, Zivilcourage und Teilhabe, über Anpassung oder Widerstand, Lüge und Wahrheit. Wann ist gewalttätiger Widerstand gegen die Staatsmacht legitim? Wie weit darf eine gewählte Regierung gehen, wenn sie die Meinungs- und die Demonstrationsfreiheit einschränkt? Cui Bono? Wem nützen Anpassung, wem Widerstand?
Lehrer Bruno (Aaron Frederik Defant) verteidigt das System und die Regierung, der seine Ehefrau angehört.
Der Konflikt: Auf der kleinen Bühne des Theaters an der Effingerstrasse ringen zwei Menschen um ihre Haltung: Hin- und hergerissen zwischen Idealen und Interessen, zwischen Verantwortung und Verrat, gib sich Denise als Revolutionärin: «Jeder Mensch hat die Wahl. Verschliesst er die Augen und Ohren und hält den Mund, oder sieht er hin und handelt», sagt sie und begründet damit, weshalb sie sich radikalisiert hat und nun auf der Strasse kämpft.
Um Brunos SIM-Karte wird physisch gekämpft.
Ihr Ex-Lehrer gibt sich zurückhaltender. Er ist mit einer Politikerin verheiratet, die Regierungsverantwortung trägt. Bruno hat einen Interessenkonflikt und findet Anpassung sowie Schweigen besser als Widerstand. Er glaubt, dass die Mutter von Denise freikommt, wenn sie mit den Behörden zusammenarbeitet. Er verteidigt das System und beruft sich auf freie, demokratische Wahlen.
Die beiden Protagonisten sind anfänglich von ihren Positionen überzeugt. Nach einer vorübergehenden physischen Eskalation wegen einer SIM-Karte finden sie zurück zum Dialog. Als aus einem geheimnisvollen blauen Ordner neue Tatsachen bekannt werden, beginnen die persönlichen Werte- und Gefühlswelten der beiden (Liebe, Treue, Glauben und Hoffnung) zu wanken. Am Schluss sind Julia und Bruno zutiefst verunsichert.
Am Schluss des Stücks sind beide, Schülerin und Lehrer verunsichert.
Würdigung: Das Spiel geht unter die Haut. Aaron Frederik Defant und Julia Sewing wirken in ihren Rollen sehr authentisch. Sie vertreten ihre Positionen glaubwürdig, mit viel Überzeugungskraft und Einfühlungsvermögen. Man spürt, dass sich die Schauspielerin und der Schauspieler in den Proben mit den Konfliktlinien und den politischen Haltungen auseinandersetzt haben. Regie führte Petra Schönwald. Die Ausstattung stammt von Melanie Kintzinger. Die Geschichte, die im Original in Deutschland spielt, aber am Effinger Hinweise auf Schweizer Verhältnisse enthält, wirkt alles andere als futuristisch, eher schon bedrohlich aktuell.
Angebot für Schulen
Die junge Autorin Esther Rölz hat im Stück «Freie Wahl» Extrempositionen einander gegenüberstellt und will zu Diskussionen anregt. Die 1973 in München geborene Deutsche wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Das Stück, das in Bern als Schweizer Erstaufführung gespielt wird, eignet sich hervorragend für Schul- und Berufsklassen, welche die genannten Themen im Unterricht behandeln. Das Effingertheater wählt pro Saison ein «Schulstück» aus und offeriert Schulen Vormittags- sowie Nachmittagsvorstellungen und stark vergünstigte Eintrittspreise.
Inbegriffen ist auch ein Nachgespräch mit den Theaterleuten, das leider nicht von allen Klassen genutzt wird. Von knapp 100 Schülerinnen und Schülern beteiligte sich am vergangenen Montagnachmittag nur gerade eine Klasse mit 18 Jugendlichen aus Burgdorf am Nachgespräch. Sie befinden sich im ersten Lehrjahr und besuchen das Bildungszentrum Emme (BZEMME), sind also zwischen 16 und 18 Jahre alt. Die Absolventinnen und Absolventen einer handwerklichen «Berufsschulfachklasse» sind angehende Landschaftsgärterinnen und Landschaftsgärtner.
Die Klasse des BZEMME aus Burgdorf liess sich nach dem Gespräch zusammen mit ihrem Lehrer und den Schauspielenden (links) auf der Bühne fotografieren.
Die Lehrlinge schienen fasziniert vom Spiel und äusserten im Gespräch mit Theaterleiterin Christiane Wagner sowie den beiden Spielenden ihre Eindrücke. Mit dabei war auch ihr Lehrer für Allgemeinbildung und Sport, Christian Hutmacher.
Nach persönlichen Fragen zu den beteiligten Personen drehte sich das Nachgespräch um die Inhalte das Stück. Was wird darin kritisiert? Gibt es Gut und Schlecht im politischen Alltag? Auf die Frage, welche Rolle ihnen sympathischer erschien, antworteten mehrere Schüler: Die des Lehrers: Er komme auf der Bühne ruhiger rüber als die wilde Revolutionärin. Für die Jugendlichen aus dem Emmental scheint gesellschaftliche Stabilität wichtiger zu sein als ein politischer Aufstand gegen die Herrschenden.
Ein Schüler formulierte es so: Anstatt Steine zu werfen wäre es klüger, das System von innen heraus zu verändern; revolutionäre Aktivitäten seien ohnehin nicht konstruktiv. Einig waren sich die Jugendlichen, dass man im Leben eine Meinung haben, eine Haltung vertreten sollte. Sich auf alle Zeiten derselben Position zu verschreiben, sei aber auch nicht der richtige Weg. Man müsse offen bleiben für andere Meinungen und stets in der Lage sein, die eigene Position zu hinterfragen.
Gewaltausbrüche führen nach Ansicht der Jugendlichen nicht zu nachhaltigen Lösungen.
Auf die Frage, was sie vom Besuch des Theaterstücks «Freie Wahl» mit nach Hause nähmen, wurde die Einsicht erwähnt, dass man nichts verheimlichen sollte, denn die Wahrheit komme sowieso ans Tageslicht. Miteinander Lösungen zu finden sei sinnvoller als gegeneinander. Tendentiell zeigten die Schülerinnen und Schüler aus Burgdorf eine Abneigung gegen Extrempositionen und plädierten für das Aushandeln von Kompromissen.
Titelbild: Schülerinnen und Schüler des BZEMME, Klasse von Christian Hutmacher, zusammen mit den beiden Schauspielern (links). Fotos: Severin Nowacki und PS
Weitere Schülervorstellungen: ANGEBOTE FÜR SCHULEN
Mi. 29.01.10.00 Uhr und 14.00 Uhr / Do. 30.01.14.00 Uhr / Mo. 03.02.14.00 Uhr / Di. 04.02.10.00 Uhr / Mi. 05.02.10.00 Uhr / Do. 06.02.14.00 Uhr / Fr. 07.02.10.00 Uhr / Mo.10.02.14.00 Uhr / Di. 11.02.10.00 Uhr / Do.13.02.14.00 Uhr / Fr.14.02.10.00 Uhr.
«Freie Wahl» wird am Effinger auch abends als reguläre Erwachsenenvorstellung gespielt.