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Es fehlt an Bürgersinn

Immer öfter ist zu lesen, dass die Demokratien von rechts und links bedroht seien. Die Polarisierung erregt Besorgnis. Die Menschen finden die Sprache des Kompromisses nicht mehr. Der Bürgersinn schwindet. Der Populismus mit seinen einfachen Lösungen gewinnt an Bedeutung. Auch von der linken Seite wird die Demokratie bedroht, nicht zuletzt wegen unglaublicher Forderungen an den Staat und der damit einhergehenden Zunahme der Bürokratie. Schon 1970 schreibt Hannah Arendt in «Macht und Gewalt», dass es um die Demokratie nicht gut bestellt sei. Neben der Oligarchie sei eine neue Herrschaftsform, die Bürokratie entstanden, «welche durch ein kompliziertes System von Ämtern ausgeübt wird, bei der man keinen Menschen mehr, weder den Einen noch die Wenigen, weder die Besten noch die Vielen, verantwortlich machen kann, und die man daher am besten als Niemandsland bezeichnet.»

In diesem Niemandsland kommt die Schweiz relativ gut weg, denn nach jeder Sachabstimmung wird ein Bundesrat oder die siebenköpfige Regierung für die Niederlage verantwortlich gemacht. Man findet also den Versager leicht. Es besteht die Neigung, die Verantwortung zu personifizieren. Dass sich die polarisierenden Parteien aus der Verantwortung schleichen und Verantwortliche ausmachen, wird überdeutlich ausgesprochen und in den Medien kolportiert. Dass Vorlagen, über die abgestimmt wird, von Mehrheiten des National- und Ständerats verabschiedet werden, ist nach der Ablehnung kein Thema mehr. Der Versager ist gefunden. Unter dem Aspekt von Arendts Kritik steht die Schweiz relativ gut da.

Dennoch schwindet auch in der Schweiz der Bürgersinn. Einfach gesagt, drückt sich der Bürgersinn darin aus, dass Menschen weitgehend selbst verantwortlich für ihr Leben sind. Sie arbeiten und tun alles, was ihre Selbstachtung stärkt. Es gehört zur Würde des Menschen, dass er von sich mehr verlangt, als was er vom Staat fordert.

Die Gleichgewichtslage in einer Gesellschaft wird vom Bürgersinn getragen. Dass da eine Partei mit Wähleranteil von ca. 12%, die sich die Mitte nennt, nicht genügt, braucht nicht betont zu werden. Denn eine solche Partei kann die Schublehre oder die Messlatte immer verschieben, je nach dem Gewicht, das auf der Waage liegt. Für eine wahre Mitte, die ein Gleichgewicht in der Gesellschaft herstellen kann, braucht es über 50 Prozent der Wählerinnen und Wähler.

Verschiebt sich aber die Politik zu den Rechtsparteien des Populismus oder zur Ideologie des Sozialismus, vermindert sich die vitale Kraft des Bürgersinns. Auch wenn dieses Wort nicht mehr zum Sprachgebrauch von Politikern, Medienleuten und den Nutzern der Sozialen Medien zählen, liegt in der bürgerlichen Mitte – aus einigen Parteien gebildet – der wahre Impetus, damit die Gleichgewichtslage bewahrt wird. Wer im Sinne des Bürgersinns handelt, reicht die Hand zum Kompromiss und zu einer Lösung von Problemen. Das beständige Beharren auf dem eigenen Standpunkt beseitigt keine Schwierigkeiten.

Leicht lässt sich feststellen, dass eine grosse Zahl von Schweizerinnen und Schweizern keine Bürger im erwähnten Sinne mehr sind. Sie wollen vor allem Nutzniesser und Konsumenten eines funktionierenden Staates sein, der ihnen erlaubt, so zu leben, wie sie möchten. Aber die Freiheit zu garantieren, kann nur eine klar geregelte Demokratie. Wie aber soll sie vital bleiben, wenn es an Menschen mit selbstverantwortlichem Bürgersinn fehlt?

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2 Kommentare

  1. Ich lese Ihre Kolumnen aufmerksam und mit grossem Interesse.Allerdings was die Stärke der Mitte betrifft, sind Sie nicht auf dem auf dem neusten Stand. In den Nationalratswahlen im Herbst 2024 erreichte sie 14,1%. Sie wissen welchen Einfluss der Ständerat hat. Dort ist die Mitte einsame Spitze.

  2. Wir durchleben gegenwärtig eine Krisenzeit, was die Menschen verunsichert. Der Bürgersinn wandelt sich, die eigene Einstellung zum Staat und zum eigenen Leben muss überprüft werden. In schwierigen Zeiten zeigt sich, wer wo und für was steht. Weder die unregulierten digitalen Medien, noch unsere Regierung und unsere Volksvertreter:innen in Bundesbern, sind mit ihrer zugespitzten Parteien Zerstrittenheit keine Vorbilder oder Wegbereiter für eine gemeinsame Zukunft.

    Fragen wirft auch das Solidaritäts-Video von SVP-Ex-Bundesrat Ulrich Maurer auf, das er kürzlich anlässlich einer AfD-Wahlveranstaltung im Bundesland Hessen an seine Freundin Alice Weidel richtete. Die AfD ist vom Deutschen Bundesgericht als «rechtsextreme Partei» verurteilt worden und steht unter Beobachtung. Besonders der AfD-Bundessprecher Gauland, der nachweislich Beziehungen zu Neonazis pflegt, die u.a. den Holocaust und die Gräuel an sechs Millionen Juden im zweiten Weltkrieg abstreitet und den Klimawandel leugnet, ist ein lauter Repräsentant der AfD, auch wenn diese Fakten nicht im Parteiprogramm erscheinen.

    Weitsicht, Vernunft und Zusammenarbeit mit der EU sind erforderlich für den Fortbestand unserer Demokratie und die hart erkämpften Werte, gerade auch im Hinblick auf die kommenden Herausforderungen durch unwahre Aussagen (in Europa gelte keine Meinungsfreiheit) und die ungerechtfertigten bisherien Forderungen (Erhöhung der Zölle) der neuen USA-Regierung.

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