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Die politische TV-Debatte: Nachahmen bringts nicht

In der ARD, im ZDF, bei RTL, SAT 1 und Phönix laufen sie jetzt fast jeden Tag: die politischen Debatten. Ja, Deutschland wählt am 23. Februar mit viel Getöse einen neuen Bundestag. Die bekannten Gesichter liefern sich gehässige Streitgefechte, die eines jeweils unabdingbar machen: den nachträglichen Faktencheck, weil es keine oder keiner in den TV-Auseinandersetzungen so genau nimmt und jede/jeder die anderen einfach übertrumpfen will, in der Wirtschafts-, der Steuer-, der Mobilitäts-, der Umwelt- und ganz besonders in der Migrationspolitik.

Anders in der Schweiz. Die Bundesversammlung steht vor einer Bundesratswahl, an der geeignete Kandidatinnen und Kandidaten kurioserweise gar nicht teilnehmen wollen. So bleibt es den Medien vorbehalten, etwas Zunder in die Diskussion und in die Wahl zu bringen. Markus Ritter, den Bauern-Präsidenten, kennt man schon etwas, vor allem als gewiefter Lobbyist und erkennt ihn an seinem Ostschweizer Dialekt. Der andere, Martin Pfister aus Zug, ist national völlig unbekannt. Er traut sich aber das Amt zu, kommt er doch aus dem «internationalen» Kanton Zug, wie er in der Sendung 10vor10 zum Ausdruck brachte, und schuf es bis zum hohen Offizier (Oberst) in der Armee. Tatsächlich sind es die Medien, die eine immer dominantere Rolle in der Demokratie spielen, insbesondere die neuen sozialen Medien.

Vor genau 65 Jahren begann, was wegweisend war und bis heute Stand hält in den politischen TV-Debatten: die Kontroverse. Immer wieder wird an diese legendäre erste TV-Debatte vom 26. September 1960 erinnert. Im «Spiegel» ist zu lesen, wie in einem  karg ausgestatteten Studio «der demokratische Senator John F. Kennedy mit übereinandergeschlagenen Beinen sass, auf dem Knie gefalteten Händen und in aufrechter Pose, den Blick gerade auf die Kamera gerichtet hatte». Rechts habe der Republikaner Richard Nixon die Knie asymmetrisch angewinkelt gehabt, sein Blick sei unsicher zwischen Kamera und Moderator hin und her gehuscht. Alles in schwarz-weiss.

Sage und schreibe: Schon damals sahen rund 70 Millionen Amerikaner das erste der vier Duelle zwischen Kennedy und Nixon. Nicht verwunderlich, die USA waren schon damals ein Fernsehland; in jedem zweiten Haushalt stand bereits ein TV-Gerät.

Fast nach 64 Jahren, am 28. Juni 2024 standen sich nun in einem gestylten und mit den Nationalfarben geschmückten Studio Joe Biden und Donald Trump gegenüber. Das Zusammentreffen ist bereits jetzt als legendäres Ereignis in die Geschichte eingegangen. Biden stammelte sich durch die 60 Minuten. Trump schaut ihn jeweils etwas von der Seite verwundert an, wenn Biden die Worte nicht fand. Und das amerikanische Stimmvolk wurde gewahr: Biden ist nicht mehr wählbar. Biden musste ausgewechselt werden. Die Geschichte ist bekannt. Trump schlug Kamala Harris, die Ersatzkandidatin, und Trump weidet sich in seinem Erfolg und entsetzt seit dem 21. Januar jeden Tag die Welt, weil er umsetzt, was er in den Medien angekündigt hat. Und straft alle Lügen, die meinten, er meine das alles nicht so ernst.

Eines brachte der US-Wahlkampf auch an den Tag: ein neues TV-Format. Verantwortlich dafür ist Joseph J. Rogan (58), ein ehemaliger Kampfsport-Athlet. Seine Sendung ist ein nicht auf die Kontroverse ausgerichtetes Format, nicht auf harte Fragen und Nachfragen, nicht auf 30 Sekunden Statements und andere Spiele, wie sie jetzt in den deutschen Sendern zu beobachten sind.

Rogan gibt seinen Gästen Raum; sie können sich selbst zur Darstellung bringen. Er schafft in den bis zu 3 Stunden langen Podcast-Gesprächen eine angenehme Atmosphäre. Der Gesprächsgast soll sich wohlfühlen, sich öffnen, seine Schwächen, aber auch Stärken zum Ausdruck bringen. Trumps Auftritt bei Rogan sahen insgesamt über 52 Millionen Menschen entweder live oder später auf verschiedenen Plattformen und nicht in den grossen TV-Sendern der USA. Die Zuschauer sahen nicht einen wütenden, polarisierenden Trump, sondern einen zugänglichen, nachdenklichen und sogar humorvollen Menschen, was sogleich auf die Gefahren des Formats hinweist: ein Wolf im Schafspelz.

Welche Lehren sind daraus zu ziehen? Beide Formate sind zu pflegen, insbesondere von der SRG. Ansätze dazu sind bereits auch bei uns und in Europa zu vermerken. Urs Gredig hat Roger Schawinski ersetzt. Ein sanfter Interviewer rückte einem hartnäckigen, oft auch ruppigen Befrager nach. So ist zu differenzieren: die Arena eignet sich für die Kontroverse, leidet aber an den immer gleichen Gästen, am Mittelmass der Schweizer Politik. Der Club müsste sich in Zukunft weit stärker auf das Erwägungsgespräch konzentrieren.

Wie Markus Lanz im ZDF, der ab und zu eine Gesprächsrunde um sich versammelt, in der erwogen, geklärt wird, Situationen, Entwicklungen aus verschiedenen Blickwinkeln erläutert werden, in der der Zuschauerschar neue Erkenntnisse vermittelt werden, zur Orientierung beigetragen wird. Lanz kann aber auch anders; er gefällt sich oft als hartnäckiger Interviewer, der seine Gäste nicht vom Haken lässt. Zwei Konzepte für eine Sendung. Auch möglich. Nur: Es muss für die Zuschauerschaft erkennbar sein.

Aktuell können wir auf den deutschen Sendern Anschauungsunterricht geniessen. Beobachten wir, wie erhellend die TV-Debatten sind: Tragen sie zur Klärung der unterschiedlichen Positionen bei, sind sie Wahlhilfen oder sind sie schlicht verstörend, weil alle einander dreinreden und die Moderatorinnen und Moderatoren laufend eingreifen, auf ihren Fragen beharren müssen, weil sie keine Antworten erhalten?

Es gibt auch ein Gipfeltreffen, den USA nachgeahmt: Friedrich Merz trifft auf Olaf Scholz, CDU gegen SPD. Vordergründig logisch. Nur: Die beiden Kanzlerkandidaten repräsentieren aber just die beiden Parteien, welche nach den Wahlen sehr wahrscheinlich miteinander koalieren werden. Sie werden dennoch kein gemeinsames Regierungsprogramm präsentieren. Im Gegenteil. Es geht also darum, wer die neue Regierung anführen wird: Merz oder Scholz? Merz führt in den Umfragen haushoch. Kann Scholz daran noch etwas ändern? Wohl kaum, auch wenn er noch nicht klein beigegeben hat. Am 23. Februar werden wir es wissen. Eines ist aber sicher: Wenn die beiden Parteien  miteinander regieren werden, wird es nicht zur grossen Wende kommen, die Merz so gebieterisch fordert. Die grosse Debatte läuft also ins Leere? Die Lehre daraus: Jedes Land braucht die Art von TV-Debatten, die dem jeweiligen Regierungssystem tatsächlich entsprechen. Das gilt auch für die Schweiz. Nachahmen bringts nicht.

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3 Kommentare

  1. Nicht nur die Debattenkultur in demokratisch regierten Ländern hat sich massiv verändert, auch die bestehenden Regierungssysteme an sich werden immer fragwürdiger. Die USA wollte keine sozialdemokratische Präsidentin. Sie wählte als zukünftigen Führer einen konservativen Populisten mit viel Geld und den Medien im Rücken, der ihnen sagte und versprach, was sie hören wollten.

    Der Deutsche Kanzlerkandidat Merz der CDU geht ähnlich vor und in der Schweiz und in anderen Europäischen Ländern wird diese Tendenz des Politisierens immer deutlicher. Die Schweiz macht gerade Schlagzeilen mit der Videobotschaft unseres Alt-Bundesrates Ueli Maurer, der dort als ehemaliger Bundespräsident auftrat. Er mischt sich an einer Wahlkampfveranstaltung der Alternative für Deutschland AfD in die Deutsche Politik ein. Darin sicherte er Alice Weidel und ihrer Partei seine Unterstützung zu.

    https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/alt-bundesrat-ueli-maurer-irritiert-mit-afd-auftritt?partId=yV2S24xSe6pp9F0IlQIrtGhMKKA

    Welchen Stellenwert hat die Neutralität der Schweiz heute noch? Übernimmt die SVP die Grundsätze der Hitlerpartei AfD? Ist die SVP für unsere Demokratie noch akzeptierbar?

  2. War die Nixon – Kennedy TV Debatte nicht am 26. September 1960 und die Trump – Biden Debatte am 28. Juni 2024?
    Biden nahm sich dann Ende Juli 2024 aus dem Rennen. Das ist nicht alles erst Ende September 2024 passiert.

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