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Frauenrechtlerin der ersten Stunde

Anna Tumarkin wurde 1909 als erste weibliche Professorin Europas mit vollständigen akademischen Rechten an die Universität Bern gewählt. Aus Anlass ihres 150. Geburtstags erinnert ein neues Buch an das schillernde Leben einer frühen Vorkämpferin für das Frauenstimmrecht in der Schweiz.

Wer in Bern von der Grossen Schanze /Parkterrasse zwischen dem alten Universitätsgebäude und dem Institut für Exakte Wissenschafte vorbei an die Sidlerstrasse spaziert, benutzt seit dem Jahr 2000 ein knapp 200 Meter kurzes Strässlein, den «Tumarkinweg». Doch nur die wenigsten Zeitgenossinnen und Zeitgenossen wissen, um wen es sich bei Anna Tumarkin handelt.

Der Weg führt vorbei am Fenster des Hörsaals, in dem eine ausserordentliche Philosophieprofessorin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über Jahre hinweg ihre Vorlesungen hielt. Ja mehr noch: Anna Tumarkin (1875–1951) war europaweit die erste Frau, die auf normalem Weg an einer von Männern und Frauen besuchten Universität zur vollberechtigten Professorin ernannt wurde. Vierzig Jahre lang lehrte sie in Bern Philosophie und Ästhetik. An internationalen Fachkongressen hielt sie beachtete Vorträge.

Im Jahr 2000 wurde entlang des Hauptgebäudes der Universität ein Weg nach Anna Tumarkin benannt. ZVG

Dennoch: In die Geschichtsbücher schaffte es Tumarkin trotzdem nicht. Die Berner Professorin sei lange Zeit kaum beachtet worden, berichtet die langjährige Leiterin des Archivs der Universität Bern und Tumarkin-Expertin, Franziska Rogger. Auch unter Philosophinnen und Philosophen sei die geborene Russin während Jahrzehnten kaum bekannt gewesen. Vielerorts habe man sie negiert oder vergessen, sagt Rogger.

Detaillierte Biografie

In einer neuen Publikation widmet sich die Berner Historikerin nun den vielen interessanten Details aus dem Leben der ungewöhnlichen Frau: Zum 150. Geburtstag Tumarkins hat Franziska Rogger das Buch «Anna Tumarkin. Das schicksalshafte Leben der ersten Professorin (1875–1951)» publiziert.

Die Bezeichnung «erste Professorin» ist eine Frage der Definition. Als erste Professorin europa- und vermutlich weltweit gilt Laura Bassi: 1733 wurde Bassi an der Universität Bologna zur ausserordentichen Professorin ernannt, zunächst in Philosophie, später auch in Physik.

Maria Mitchell wurde 1865 Professorin für Astronomie, allerdings an einem reinen Frauen-College im US-Bundesstaat New York. Die russische Mathematikerin Sofja Kowalewskaja schliesslich gilt als die erste Frau, die 1889 in Stockholm eine ordentliche Professur erhielt.
Tumarkin hingegen war die erste «echte» Professorin, sagt Autorin Franziska Rogger: «1909 wurde sie in Bern «zur ersten Professorin mit vollen akademischen Rechten ernannt», d. h. sie durfte Prüfungen abnehmen und im Universitätssenat sowie in der Fakultätsleitung mitwirken.» Im Laufe ihrer Karriere betreute Tumarkin als «Extraordinaria» Hunderte von Doktorand:innen und Habilitand:innen.

Flucht aus Russland

Frühes Bild der jungen Philosophieprofessorin (ca. 1910). Quelle: Staatsarchiv des Kantons Bern, StABE N Tumarkin 1-2./ SNB.Rq 4839

Wie kam die Exil-Russin überhaupt in die Schweiz? Tumarkin war als Anna-Ester Pawlowna Tumarkina in eine jüdischen Kaufmannsfamilie hinein geboren worden. Sie wuchs in der Stadt Chisinau im russischen Kaiserreich (Hauptstadt des heutigen Molawiens) auf, wo sie ihre Kindheit bis zur Sekundarschule verbrachte. Nach der obligatorischen Schulzeit besuchte sie ein Mädchengymnasium sowie ein Lehrerinnenseminar.

Im Jahr 1892, im zarten Alter von erst 17 Jahren, zog sie aus politischen Gründen nach Bern. Vertreterinnen und Vertreter der russischen Opposition sowie der jüdischen Intelligenz verliessen ihre Heimat, da sie im Kaiserreich nicht studieren durften. Im Gegensatz zu andern Ländern war den Frauen in der Schweiz das gleichberechtigte Studium seit den 1870er Jahren erlaubt.

Da der Zar seinen Landsleuten sogar ein Studium an der Universität Zürich verboten hatte, wählte Tumarkin, wie Hunderte von Russen und Russinnen, die Bundesstadt als ihren bevorzugten Studienort. Zwischen 1880 und 1900 betrug der Ausländeranteil an der Uni Bern dreissig Prozent. Um sich so jung an der Universität Bern zum Studium einzuschreiben, musste Tumarkin «etwas tricksen», wie Rogger sagt. Eigentlich sollte man 18 Jahre alt sein, um zum Studium zugelassen zu werden.

Dissertation zu Herder und Kant

In Bern studierte Tumarkin – anfänglich an der alten Akademie am Casinoplatz – Germanistik, Geschichte sowie Philosophie und schloss ihr Studium 1895 mit Bestnoten ab. Nach einem dreijährigen Aufenthalt in Berlin, wo sie sich der Ästhetik widmete, kehrte sie 1898 nach Bern zurück. Ihr Professor war der bekannte Philosoph Ludwig Stein. Früh sah er das Potenzial der jungen Frau. Er ermunterte sie, zu doktorieren. Im Alter von zwanzig Jahren schaffte sie die Promotion mit der Auszeichung «summa cum laude». Ihre Dissertation zu Herder und Kant fand auch international Beachtung.

Das 1905 eröffnete Universitätsgebäude der Uni Bern auf der Grossen Schanze. Historische Postkarte. ZVG

Später war es ebenfalls Professor Stein, der sowohl bei Tumarkins Vater als auch bei der Universität dafür lobbyierte, dass sich seine Schülerin in Bern habilitieren konnte und dass ihr der Professorentitel verliehen wurde. So wurde sie 1906 zur Titularprofessorin und 1909 zur ausserordentlichen Professorin ernannt. Der letzte Schritt, derjenige zum Ordinariat, blieb ihr allerdings versagt, was mit einer schmerzhaften Gehaltseinbusse verbunden war. Die Berufskommission begründete die Ablehnung mit der ungenügenden Publikationsliste und hegte Bedenken gegen die Besetzung der exponierten Professur mit einer Frau.

Protokollauszug der Sitzung des Berner Regierungsrats vom 3. Februar 1909. Quelle: Staatsarchiv.

Dass es gerade Tumarkin war, die zur ersten a.o. Professorin wurde, hatte laut Rogger wohl auch etwas mit ihrer Persönlichkeit zu tun. «Sie muss eine wahnsinnig liebenswürdige und bescheidene Frau gewesen sein», betont die Buchautorin. So habe sie es immer wieder geschafft, dass Leute sich ungefragt für sie einsetzten. Tumarkin sei aber auch ausserordentlich intelligent gewesen. Hervorgehoben worden sei dabei stets ihr «eigenständiges Denken». Sie habe beispielsweise bei Mathematikaufgaben oft einen anderen Lösungsweg gefunden als andere, sagt Rogger.

Früher Kampf für die Gleichberechtigung

An der Hallwylstrasse 44 im Kirchenfeld wohnten Anna Tumarkin und Ida Hoff in einer Lebensgemeinschaft. (1918). StABE N Tumarkin 1-2./ SNB.Rq 4839

Obwohl die Russin ganz in der stillen Wissenschaft aufging, votierte sie öffentlich für das Frauenstimm- und -wahlrecht sowie für die Gleichberechtigung im Beruf. So vertrat sie die These, dass Frauen im Beruf nicht nur gleich gut, sondern besser sein mussten, wenn sie mit Männern konkurrierten und ebenfalls Karriere machen wollten.

Demonstration anlässlich der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (SAFFA) in Bern. Vermutlich nahm auch Anna Tumarkin 1928 an der Demonstration vor dem Bundeshaus teil. Die Schnecke ist eine Anspielung auf das Schneckentempo, mit dem die Politik damals die Stimmrechtsfrage der Frauen behandelte. Foto ZVG/Gosteli-Archiv

1928 engagierte sie sich an der 1. Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit SAFFA und arbeitete am «Verzeichnis der Publikationen von Schweizer Frauen» mit. Ihre Lebenspartnerin Ida Hoff, die erste Berner Schulärztin, hatte sie wohl für die Sache der Frau gewonnen. Die Medizinerin hatte schon um 1900 zu den militanten Frauenrechtlerinnen gehört, die im Berner Studentinnenverein gleiche Rechte für gleiche Pflichten verlangten. Hoff und Tumarkin wohnten und arbeiteten zusammen, zuerst an der Amthausgasse, dann an der Hallwylstrasse 44 und schliesslich bis zu Tumarkins Tod in Muri-Gümligen.

Ab 1921 Schweizer Bürgerin

Anna Tumarkins Privatleben war eng mit ihrer russischen Herkunft als Jüdin verbunden. Sie trug schwer an allem, was mit der Bolschewisierung, der deutschen und rumänischen Besetzung ihrer Heimat und der Deportation und Vergasung der Millionen von Juden verbunden war. Auch ein Grossteil ihrer Familie wurde von den Nazis umgebracht. Als ihre Heimatstadt an Rumänien ging und sie mit ihrem ungültig gewordenen Pass heimatlos wurde, bewarb sie sich 1921 um das Schweizer Bürgerrecht.

Anna Tumarkin, aufgenommen in Bern anlässlich ihres 65. Geburtstags am 16. Februar 1935. Die Dozentin litt in fortgeschrittenem Alter an Elefantiasis, einem krankhaften Anschwellen von Geweben und Organen. StABE N Tumarkin 1-2./ SNB.Rq 4839

Begeistert war die Pionierin nämlich nicht nur von der Philosophie, sondern auch von der Schweiz. Sie habe in der «Freiheit und Weitherzigkeit» der Schweiz eine zweite Heimat gefunden, schrieb sie in ihrem Einbürgerungsgesuch. Dankbar für den positiven Einbürgerungsentscheid attestierte sie unserem Land eine eigenständige Philosophie. Deren eigentümlicher Charakter sei, analog zur Schweizer Politik, «erdverwurzelt». Schweizerisches Geistesleben verzichte auf alle ideologischen Konstruktionen und metaphysischen Lehrgebäude, fand sie. In Abgrenzung dazu zog die Dozentin eine Verbindung abgehobener Philosophiesysteme zum «grausamen Kriegsgeschehen» und zur «ratlosen Menschheit».

Anna Tumarkin starb am 7. August 1951. An ihrem Grabe sprach auch ein Vertreter der Universität Bern: Er sagte: «In tiefer Trauer und mit bewegtem Herzen stehen wir an der Bahre einer hochgelehrten und edlen Frau. Die Hochschule und die Fakultät sind stolz darauf, dass sie diese erste Dozentin zu ihren Mitgliedern zählen und damit sich selber ehren durfte.» Anna Tumarkin wurde auf dem jüdischen Friedhof in Bern begraben.

Franziska Rogger: Anna Tumarkin. Das schicksalhafte Leben der ersten Professorin. Stämpfli Verlag AG, Bern 2024. ISBN 978-3-7272-6187-9

Titelbild: Anna Tumarkin war die einzige Philosophin, die beim zweiten internationalen Philosophenkongress in Genf 1904 als Rednerin auftrat. (Fünfte Frau in der zweiten Reihe von rechts.). StABE N Tumarkin 1-2./ SNB.Rq 4839

LINKS

Artikel zur Jubiläumsfeier

Ausstellung über Anna Tumarkin 

Artikel über Ida Hoff

Am 13. März um 13.15 Uhr findet im Haus der Akademien in Bern eine Podiumsdiskussion über Anna Tumarkin und ihre Bedeutung für die Schweiz statt.

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