StartseiteMagazinGesellschaftKritischer Blick auf Albert Schweitzers Lebenswerk

Kritischer Blick auf Albert Schweitzers Lebenswerk

War Albert Schweitzer ein Wohltäter oder ein Kolonialist? Ein neues Buch wirft aus heutiger postkolonialistischer Perspektive kritische Fragen auf. Forschende der Universität Bern haben historische Quellen erschlossen und rütteln am Sockel des weltweit verehrten Nobelpreisträgers.

Meine Grossmutter Martha Leutwyler gehörte als junges Mädchen zu den glühenden Verehrerinnen von Albert Schweitzer. Sie wäre gerne aus dem aargauischen Lupfig nach Lambarene gereist, um dort zu arbeiten. Nur die Armut ihrer Familie hinderte sie daran. So fuhr sie nach Klosters, um dort in einem Hotel während dem ersten Weltkrieg reiche Gäste zu betreuen. Einen Teil ihres hart erarbeiteten Lohns schickte sie nach Lambarene. Mir vermachte sie mehrere Bücher über ihr Idol.

Die von meiner Grossmutter geerbten Bücher.

Auch die Medien sahen in Schweitzer während Jahrzehnten einen Menschenfreund: Das US-Magazin «Life» beschrieb ihn als «the greatest man in the world»; 1953 durfte der im  Elsass geborene Deutsche für seine Wohltaten als Mediziner im afrikanischen Urwald den Friedensnobelpreis entgegennehmen; und allein in Deutschland wurden laut «Sonntagszeitung» mehr als 200 Schulen und 700 Strassen nach ihm benannt.

Albert Schweitzer, 1955. Foto Bundesarchiv.

Im Januar dieses Jahres jährte sich der Geburtstag des Arztes, Theologen, Philosophen und Umweltschützers zum 150. Mal. Die «Süddeutsche Zeitung» meinte bei dieser Gelegenheit, Albert Schweitzer, tauge noch heute «als Vorbild». Zu einem etwas kritischeren Schluss kommen Forschende der Universität Bern.

Buchprojekt und Medienkonferenz

Hubert Steinke und sein Team vom Institut für Medizingeschichte der Uni Bern legen mit dem Buch «Albert Schweitzers Lambarene. Ein globales Spital im kolonialen Afrika» erstmals eine kritische Untersuchung des 1913 gegründeten Spitals in Gabun, Zentralafrika, vor.  Das Buch ist das Resultat eines vom Schweizer Nationalfonds finanzierten Forschungsprojekts.

An einer Buchvernissage präsentierte das Team kürzlich seine Forschungsergebnisse. Das Buch erzählt die Geschichte des Hilfsprojekts in Lambarene, das aus heutiger Sicht trotz humanitärem Anspruch kolonial geprägt war. Mit der afrikanischen Unabhängigkeit wurde es zunehmend als Beispiel einer rückständigen, kolonial geprägten Medizin wahrgenommen.

Geist der Menschlichkeit erneuern

«Das Buch beschreibt die wechselnden Ideen und Hoffnungen des Gründers, seiner Frau Helene und ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, das medizinische Angebot, den Alltag der Patientinnen und Patienten und die Organisation eines internationalen Netzwerks von Unterstützern in der Zeit von 1913-1965», erklärte Prof. Dr. Hubert Steinke, Ko-Autor der Publikation.

Hubert Steinke und Hines Mabika mit Archivmaterial zum Spital. © ZVG.

Als eine der wenigen privaten, unabhängigen Organisationen habe das Spital im Gegensatz zu Regierungs- und Missionsspitälern keine politischen, wirtschaftlichen oder missionarischen Ziele verfolgt. Im Sinne des <Lambarene-Geists> versuchte man, eine einfache, aber wirkungsvolle und menschliche Medizin umzusetzen, die den Kranken viel Freiheiten liess. Gemeint war damit eine bestimmte Haltung und Atmosphäre, die mit Idealen wie Einfachheit, Natürlichkeit, Herzlichkeit, Fröhlichkeit, Gemeinschaft, Respekt, starkem Arbeitsethos und Unabhängigkeit verbunden ist. Änderungsvorschläge, die seinen Vorstelllungen widersprachen, lehnte er ab.

Weitere Forschung nötig

«Das Ziel war es aber nicht nur, den Menschen in Afrika zu helfen, sondern auch den Geist der Menschlichkeit im Westen zu erneuern», bilanzierte Steinke seine Forschungsergebnisse. An der Vernissage erläuterte das Autorenteam die Notwendigkeit solider historischer Forschung, um einseitige Einschätzungen zu vermeiden. Das Forschungsprojekt habe gezeigt, dass im Spital in Lambarene ein guter medizinischer Service angeboten wurde. Gleichzeitig macht es auch deutlich, dass dies nur eine lokale Hilfe war, die keine Ausbildung von Personal und keine grundsätzliche Verbesserung des Gesundheitswesens zum Ziel hatte.

Albert Schweitzer und der Spitalkoch Saley, 1945. © Archives Centrales Albert Schweitzer, Gunsbach.

Das Hilfsprojekt sei auch vom Ziel einer «Zivilisierung» der afrikanischen Bevölkerung geprägt gewesen und von Schweitzers bekanntem Spruch «vom Europäer als dem grossen Bruder», der seinem «kleinen Bruder» in Afrika hilft. «Das Buch erzählt die Geschichte eines grossen Hilfsprojekts, das trotz seiner humanitären Ausstrahlung in koloniale Haltungen verstrickt blieb. In der aktuell aufgeheizten Diskussion um koloniale Verflechtungen zeigt es, dass wir uns weder mit Glorifizierungen noch mit vereinfachenden Verurteilungen zufriedengeben sollten», bekräftigte Steinke.

Titelbild: Albert Schweitzer in Lambarene. Foto © Hilger.

Quellenangabe Hines Mabika, Hubert Steinke, Tizian Zumthurm: Schweitzers Lambarene. Ein globales Spital im kolonialen Afrika. Wallstein, 2024. 343 Seiten, 110 Abbildungen. ISBN 978-3-8353-5672-6 – Online-Version frei zugänglich. 

Gratis Download: Wallstein Open Library  

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