«Mein Bruder Marco. Eine Annäherung» ist ein knapp 200 Seiten langer Brief, den der emeritierte Soziologieprofessor Ueli Mäder an seinen vor einem Jahrzehnt verstorbenen engsten Vertrauten seit frühester Kindheit schreibt.
«Du bist mein älterer Bruder, warst mein Vorbild, standest mir lange am nächsten und bist mir heute noch sehr nah,» schreibt Ueli Mäder in der Einleitung, er versuche, das, was sich bei ihm, dem Bruder und in der Gesellschaft geändert hat, «zu vergegenwärtigen und zu verstehen.»
Marco Mäder kümmerte sich bis zu seinem Ende um die Vogelvolière von Sissach, einen der letzten Lieblingsorte.
Ein Buch wie diesen Abschied von Marco kann man auf verschiedene Arten lesen: Es ist Ueli Mäders Erinnern an den Bruder, es ist aber auch ein Buch über die Kindheit in einer grossen Familie, an glückliche Tage der Adoleszenz, an spätere schwierige Zeiten. Es zeichnet das Bild eines hochintelligenten und zugleich hochsensiblen Menschen, der die Welt verbessern wollte und scheiterte.
Oder es weckt für viele, die zur gleichen Zeit wie Marco in Basel an der Universität studierten oder «auf der Gasse» waren, Erinnerungen. Bekannte, Freunde und Freundinnen sind namentlich genannt oder leicht erkennbar. Und nicht zuletzt ist es ein Text des Soziologen Ueli Mäder, der mit seinem umfassenden Wissen, seinen Recherchefähigkeiten und nicht zuletzt seiner Gabe der Selbstreflexion ein Buch vorlegt, das zu lesen lohnt.
Eins der sechs Kapitel stammt nicht vom Autor, es ist eine Auftragsarbeit, die Marco für seinen Bruder schrieb, eine Geschichte, die sich der Dozent an der Sozialarbeiter-Fachschule für das Weihnachtsfest 1991 gewünscht hat. «Frohes Fest» erzählt von der Errettung eines Säufers und dessen unausweichlichem Rückfall. Mäder schreibt: „Du bist für mich in dieser Geschichte gut spürbar und gibst so viel von dir preis.»
Marco kommt am 20. April 1947 zur Welt, er ist das vierte Kind einer liebevollen Familie, ein Sonntagskind. Die Eltern lernten sich bei einer Heilsarmeeversammlung in Aarau kennen. Der Vater war Metzger, arbeitete später als Alkoholfürsorger beim Blauen Kreuz (sein Vater war Alkoholiker gewesen). Die Mutter musste nach der obligatorischen Schulzeit zuhause helfen, statt einen Beruf lernen zu dürfen. Sie zog sechs Kinder auf, bildete sich autodidaktisch und arbeitete als Verlagslektorin.
Ueli und sein grosser Bruder Markus auf der Pirsch mit der Kamera
Ueli Mäder, vier Jahre jünger als Marco, gelingt es, in dem bisweilen sehr intimen Brief an seinen Bruder die Weltlage mitzudenken. 1991 schreibt Marco: «Ich kann meine Augen nicht länger davor verschliessen, dass wir nicht zuletzt deshalb zu den reichsten Nationen gehören, weil wir es verstehen, Gewinne aus dem Handel mit unterentwickelten Ländern zu schlagen, weil wir mit Waffen Handel treiben. Ich sehe, wie unser Profitdenken die vielgerühmten humanitären Ziele der Schweiz zu schönen Worten werden lässt.» Dazu der kurze Kommentar des Autors: Die Schweiz verwalte heute über ein Viertel vom internationalen Vermögen und wickele bei fünfzehn Rohstoffen über vierzig Prozent des globalen Umsatzes ab.
Die Ereignisse von damals ins heute zu führen, ergeben einen Erzählstrang, der diesen Briefroman über eine persönliche Geschichte des Verlusts hinaus auf die gesellschaftlich-politische Ebene hebt, ohne dass die Person Marco darin verschwindet oder als Trigger verwendet wird. Es bleibt die Biographie vom hochbegabten und sportlichen Theologiestudenten, der ein trauriges Ende als schwerer Alkoholiker und Krebskranker nimmt, reflektiert in politischen, solziologischen oder philosophischen Erörterungen. Marco ist präsent, denn Ueli Mäder kann auf einen reichen Schatz an Briefen und Dokumenten sowie Erzählungen von Freundinnen und Freunden zurückgreifen.
Ich habe zeitgleich mit Marco an der Universität Basel studiert und kenne viele der Menschen, die Ueli Mäder zitiert. Mir lebhaft in Erinnerung ist beispielsweise die kritische Ökonomin Mascha Madörin (*1946) oder der Künstler und Gründer der Radgenossenschaft Walter Wegmüller (1937-2020).
Die Brüder Marco und Ueli Mäder bei einer Schifffahrt auf dem Hallwilersee.
Es waren die 60er Jahre, der Aufbruch der Studierenden aus einem strengen Regelsystem brachte neue Ideen von Freiheit und Gleichheit. Damals in Basel war es die theologische Fakultät, die der Studentenbewegung voranging. Für Marco und viele von uns war der politische Philosoph und radikale Denker Arnold Künzli ein wichtiger Lehrer; er wurde jedoch – wie alles und alle – von seinen protestierenden Studierenden ebenso heftig kritisiert wie die bürgerliche Gesellschaft.
Pionier war Marco Mäder als erster verurteilter Dienstverweigerer im Kanton Basel-Landschaft, was ihm in Sissach, der Wohngemeinde seiner Eltern, wohin er sich später ganz zurückzog, auch bösartige Kritik und hinterrücks eins auf den Schädel einbrachte. 1968 musste er ins Gefängnis, wo er – wie sonst auch – denkend und schreibend seine Zeit verbrachte. Marco war belesen wie kaum jemand, hoch gebildet, politisch wach, interessiert und ein empathischer Mensch, der überall beliebt war und auch zu schwierigsten Jugendlichen den Zugang fand. Wer seine Hilfe brauchte, der bekam sie uneigennützig, aber sich selbst helfen oder helfen lassen konnte er nicht.
So sucht Ueli Mäder bei der «Annäherung» an den Bruder nach Spuren, die einen Hinweis geben könnten, warum Marco keinen anderen Ausweg hatte, als zuletzt den qualvollen Tod. Da war die enge Bindung an die Mutter, da war das Helfersyndrom, aber auch die radikale Protesthaltung. Oder war Marco auf einem messianischen Passionsweg, auf dem er das Leiden der anderen mit sich trug? Ueli Mäder überlegt, wie sehr er, der Bewunderer des älteren Bruders, sich in Marco spiegelt, beispielsweise Arbeitseifer und Alkoholsucht als mögliche Parallelen.
Alles, was Marco anpackte, war erfolgreich: das Studium, die politische Arbeit für den Frieden, die Jugendarbeit, die vielen Vorträge unter anderem zur Friedenspolitik, zu denen er eingeladen wurde. Begonnen hat es mit einer glücklichen Schulzeit, Handball in der Nationalliga und legendären Blaukreuz-Lagern: Er war anerkannt und beliebt, doch fast zwanghaft zerstörte er alles, schmiss das Studium, verspielte den geliebten Job als Jugendsozialarbeiter, enttäuschte gute Freunde, zog sich zurück in den Alkohol, aber auch in die Natur, die ihm bis zuletzt viel bedeutete.
Ueli Mäder beschreibt im letzten Teil des Buchs Spaziergänge, die er mit Marco in den Hügeln und Wäldern des Baselbieter Jura unternommen hatte, unterteilt mit 13 Schlüsselwörtern wie Friedensforschung, Männlichkeit oder Melancholie. Am Ende seiner Textarbeit hat Ueli Mäder, die er «primär für mich und nicht aus Nächstenliebe» auf sich genommen hat, die Verzweiflung am Grab hinter sich lassen, seinen Bruder loslassen können: «Ich lasse dich gehen, vergänglich, wie wir sind, und danke dir für alles.»
Titelbild: Aussicht vom Wiesenbergturm. Foto: Baselland Tourismus
Fotos: © Ueli Mäder
Ueli Mäder: Mein Bruder Marco. Eine Annäherung. Zürich 2024. Rotpunkt-Verlag
ISBN 978-3-03973-021-6
Links:
Mascha Madörin
Walter Wegmüller
Arnold Künzli
Ueli Mäder (Kolumnist bei Seniorweb)